Conrad Harper schrieb den Namen ‚Percival Arthur Chesterway‘ als Überschrift auf die erste Seite des Memo-Boards. Darunter hielt er Stichpunkte fest, die ihm wichtig erschienen: ‚Prince Charming‘, ‚Politiker‘, ‚beliebt (?)‘. „Okay, short check: Wir gehen derzeit von einer persönlich motivierten Hinrichtung aus. Also, wer kommt als Verdächtiger in Frage und wie lautet das jeweilige Motiv?“
„Eifersucht“, sprudelte es spontan aus Marc heraus. „Täter: Mrs. Chesterway. Ich meine, durch welches andere Motiv bedingt, beraubt man einen Mann seiner Männlichkeit?“
„Das scheint auf den ersten Blick der naheliegendste Punkt“, räumte Grace ein. „Aber wir haben keinerlei Hinweise darauf, dass Prince Charming fremdgegangen ist und seine Frau Grund zur Eifersucht hatte. Chesterway war ein bekannter Politiker, er hatte ganz bestimmt Feinde. Vielleicht ist das Abschneiden des Penis ja nur Ablenkungsmanöver und soll uns auf eine falsche Fährte locken.“
Marc zuckte die Schultern.
„Feinde in der Politik hatte er genug“, meldete sich Hope zu Wort. Wie immer hatte sie im Internet ausführlich recherchiert. „Zum einen könnte ich seinen direkten Rivalen nennen: Earl Baker. Er ist seit elf Jahren in Folge zum Vorsitzenden der Demokratischen Partei von Louisiana gewählt worden, aber seit Chesterway an der Spitze der Republikaner steht, sind laut Umfragen die Sympathien deutlich zugunsten der Republikaner gewachsen. Es geht immer um die Delegation im Representantenhaus, wo wir derzeit fünf Republikaner und nur einen Demokraten haben. Während unsere Hauptstadt Baton Rouge und unsere größte Stadt New Orleans Zentren des demokratischen Liberalismus sind, kehrt Shreveport immer mehr zurück zu den guten, konservativen Republikanerwurzeln.“
„Mein Gott, Hope, Goody Earl könnte doch keiner Fliege etwas zu Leide tun“, warf Conrad mit väterlichem Tadel ein.
„Du hast nach möglichen Verdächtigen gefragt und die liefere ich dir hier gerade“, wies Hope ihn streng zurecht. Harper hob abwehrend die Hände. „Danach kannst du immer noch entscheiden, wen du ins engere Verhör nehmen willst. Zweiter auf meiner Liste ist Harry Meyer. Im Gegensatz zu Earl Baker lebt er hier in Shreveport und leitet das hiesige Parteibüro der Demokraten. Er ist also ebenfalls ein direkter Konkurrent unseres Opfers. Da wir seit kurzem statt der bisher üblichen zehn nur noch acht Wahlmänner ernennen, könnte er um seine Wiederwahl gefürchtet haben… Der dritte Mann, der mir in Bezug auf mögliche Neider in den Sinn kam, ist Thomas Rack, zweiter Vorsitzender des hier ansässigen Republikanervereins, der immer zweite hinter Prince Charming, der ewige Verlierer. Seine Ambitionen, endlich einmal der Erste zu sein, könnten ihn zu einer leidenschaftlichen Tat hingerissen haben: Indem er Chesterway entmannt, nimmt er ihm sozusagen die Macht, über ihm zu stehen. Sorry Captain, ich weiß, Profilerscheiße…“
Harper schüttelte hastig den Kopf. „Ich werde dich nicht mehr unterbrechen, Süße“, erklärte er mit respektvoller Stimme.
„Mitschreiben hättest du trotzdem können“, überging Hope seine Neckerei und legte ihm ihr handgeschriebenes Notizblatt vor die Nase. „Hier, dann machst du auch keine Schreibfehler.“
„Die sowieso keinem auffallen würden, weil man Conrads Schrift einfach nicht lesen kann…“, erheiterte Adrian das Team durch seinen spontanen Einwurf.
Captain Harper zeigte mit dem Stift auf den Aufrührer. „Ich habe schreiben gelernt“, sagte er, „lernt ihr lesen.“
„Wenn wir davon ausgehen, dass es einer dieser Politikerfreunde war“, überlegte Marc laut, „dann wird er die Tat wohl kaum selbst verübt haben. Die Folter aber ist eindeutig leidenschaftlicher Natur. Angenommen einer deiner politischen Führer hätte ein leidenschaftliches Interesse am Tod unseres Opfers, würde er doch nicht selbst in das gut bewachte Haus spazieren, während ihm die Presseleute von halb Louisiana auf Schritt und Tritt folgen und sich einfach so die Zeit nehmen, seinen Rivalen noch anständig zu quälen, bevor er ihn erschießt. Also, mir scheint das nicht logisch.“
„Du willst, dass es seine Frau war, richtig?“, fragte Adrian.
„Ich will uns nur vor unnötiger Arbeit und gierigen Journalisten bewahren, die alles in den falschen Hals kriegen, übereilte Schlüsse ziehen und am Ende das gesamte Ausmaß der Korruption unserer geschätzten Politiker aufdecken“, rechtfertigte sich Marc.
„Im Prinzip könnte es doch jeder Republikaner gewesen sein, der eine Aussage Chesterways in den falschen Hals bekommen hat, und genauso gut jeder Demokrat, der ihn aus dem Weg räumen wollte. Im Prinzip kommt also jeder mündige Bürger dieser Stadt in Frage“, fasste Grace das Nichtvorhandensein näherer Informationen zusammen.
„Das hört sich vernichtend an, aber im Prinzip trifft es das“, stimmte Harper ihr zu.
„Also ich finde, wir sollten uns auf einzelne Personen konzentrieren“, schlug Hope vor. „Ich halte die Theorie mit der Ehefrau auch für am wahrscheinlichsten. Jedenfalls zum momentanen Zeitpunkt der Ermittlungen. Doch dann bräuchten wir Hinweise darauf, dass Prince Charming auch zu anderen Frauen charming war, wenn ihr versteht, was ich meine… Ihr seid Männer, ihr versteht genau, was ich meine“, beantwortete sie sich selbst ihre Frage.
„Also sollten wir Leute befragen, die ihm nahestehen?“, fragte Grace.
„Nicht unbedingt…“, Marc schüttelte den Kopf. „Wenn er nicht wollte, dass seine Frau von seinen Affären Wind bekommt, dann ist es wohl eher unwahrscheinlich, dass wir in seinem nächsten Freundeskreis etwas erfahren, da dieser ja auch Mrs. Chesterway offenstand. Es wäre geschickter, sich bei seiner täglichen Arbeitsstelle umzuhören. Wie hieß der Typ vom hiesigen Parteibüro nochmal? Der ewige Verlierer?“
„Thomas Rack“, kam es von Hope wie aus der Pistole geschossen und Marc verstand. Die gutaussehende Detective hatte es wirklich faustdick hinter den Ohren. Während sie ihm Honig ums Maul schmierte, tappte er genau in ihre Falle; denn jetzt war es seine Idee gewesen, ihren Verdächtigen unter die Lupe zu nehmen und dabei glaubte er auch noch, dass er es seinen geschickten Überlegungen zu verdanken hatte, dass sie sich mit dem Typen unterhielten. Hope war eine taktische Planerin mit ausgezeichneter Menschenkenntnis. Das war wohl auch der Grund, warum Harper sie vom ersten Tag an als seine Nachfolgerin auserkoren hatte.
„Also gut. Setzen wir da an“, zeigte Harper sich mit den Vorschlägen seines Teams einverstanden. „Hope und Grace fahren noch einmal zu Mrs. Chesterway, denn ich denke, sie fühlt sich Frauen gegenüber verstandener. Team AM stattet unserem ewigen Verlierer Thomas Rack einen Besuch ab; vielleicht zeigt er sich ja gesprächsbereit, wenn ihr ihm verklickert, dass er in irgendeiner Weise auf unserer Liste der Verdächtigen gelandet ist. Bertram, ich möchte gerichtliche Anordnungen, die uns das Durchsuchen der Immobilien von Prince Charming ermöglichen. Ich bin mir sicher, sein Anwesen am Lakeshore Drive ist nicht sein einziger Besitz. Besorg mir eine Liste, vielleicht findest du etwas, das er für sich privat genutzt hat… Ein Hausboot oder so. Keine Ahnung… Lass es relativ offen. Lass deine Beziehungen spielen. Ich persönlich werde den Eltern unseres Spitzenpolitikers mein tief empfundenes Beileid aussprechen. Vielleicht kann ich von ihnen etwas erfahren, das uns weiterbringt. Morgen früh, acht Uhr Rapport. Und zwar pünktlich!“
„Aye Captain“, schallte es wie aus einem Munde.
Montag, 19. Oktober, 18.15 Uhr
„Wow, schon nach sechs und hier arbeiten sie tatsächlich noch. Und da sagt noch jemand, Politiker würden nur fürs Reden bezahlt“, sagte Adrian mit einem anerkennenden Nicken zu dem grauen Gebäude, in welchem die Republikaner Shreveports ihren Sitz hatten. Obwohl das Parteibüro nur knappe 15 Meilen entfernt lag, hatten sie über eine Stunde gebraucht, um sich durch den Feierabendverkehr hierher zu quälen.
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