André Gerard
Die toten Städte
Roman
Der Wind wehte an diesem Tag aus der Wüste und brachte Sand und heiße, trockene Luft mit, die den Berghang hinaufdrückte. Hier, an der Südseite der Bergkette, bestand der Hang größtenteils aus nackten Felsen; nur an einigen Stellen hatten sich einige zähe Pflanzen behauptet. Im Laufe der Zeit hatte der Wind Schluchten und Felskegel aus dem Gestein geschliffen, so dass die Berge hier ein stark zerklüftetes Aussehen angenommen hatten. Es war eine Welt der Gegensätze zwischen dem blendenden Weiß des von der Sonne aufgeheizten Gesteins und dem fast völligen Schwarz der Schatten in den Felsspalten und Schluchten. Heute verwischte der Staub in der Luft jedoch diese Gegensätze ein wenig, während der heulende Wind jedes andere Geräusch verschluckte. Die Gestalt, die hier in der Nähe des alten Pfades, der von der Schlucht herabführte, gegen die Felswand lehnte, mochte daher einem Beobachter auf den ersten Blick kaum auffallen. Die Kleidung des Mannes war abgenutzt und zerschlissen, und seine Gesichtszüge waren ausgemergelt, womit er wie das menschliche Gegenstück zu seiner verwitterten Umgebung wirkte. Den Mund mit den zersprungenen Lippen halb geöffnet, die Augen geschlossen und den Kopf zur Seite gedreht, hätte er auch seit Stunden tot sein können, wenn nicht das kaum merkliche Heben und Senken des Brustkorbs gewesen wäre. Ungeachtet dessen würden spätestens in den Abendstunden, wenn der Wind nachgelassen hätte, die Geier den alten Pfad wieder gesäubert haben.
Jemand kam ihnen zuvor. Der stämmige Mann zerrte den Sterbenden unsanft an einem Arm auf die Füße, schulterte ihn mit erstaunlicher Leichtigkeit und trug ihn wie einen Sack Getreide den Hang hinab. Seine Fracht zeigte dabei keine Regung. Die grobe Behandlung reichte offenbar nicht aus, um den Erschöpften dem Zustand der Bewusstlosigkeit zu entreißen. Erst der Kontakt mit kaltem Wasser brachte dies zustande. Als der Kopf wieder auftauchte, entrang sich den aufgeplatzten Lippen ein Stöhnen; zu einem Schrei schien dem Mann noch die Kraft zu fehlen. Sie reichte jedoch aus, um den ausgemergelten Körper nunmehr mit den eigenen Armen zu stützen. Die nun offenen Augen blickten mit einem zunächst nur halb wachen Ausdruck auf den kleinen Bach, der sich im Lauf der Jahrhunderte sein Bett aus dem Gestein genagt hatte. Die Quelle des Rinnsals war nicht zu erkennen, es verschwand irgendwo zwischen den Felsen einige hundert Schritt in nördlicher Richtung. Bergab floss der Bach an einer Hütte vorbei, ein Anblick, der dem Mund des Erwachten das zweite Geräusch innerhalb kurzer Zeit entlockte, das jedoch kaum kräftiger als das erste klang: ein heiserer Laut der Überraschung.
Der erste Versuch, aus eigener Kraft auf die Beine zu kommen, scheiterte. Er konnte seinen Sturz halbwegs mit den Armen abfangen, während die stämmige Gestalt hinter ihm dieses Mal keine Anstalten machte, ihn zu unterstützen. Nunmehr wieder bäuchlings mit dem Kopf über dem Bachbett liegend, entschied er sich, das nahe Liegende zu tun und zunächst seinen Durst zu stillen. Er schöpfte mit der Hand mehrmals gierig Wasser, war aber trotz seines Zustandes offensichtlich geistesgegenwärtig genug, nach einigen Schlucken inne zu halten und somit seinen Körper vor möglichen Krämpfen zu bewahren. Anschließend unternahm er den zweiten Versuch, auf die Füße zu kommen, dieses Mal erfolgreich. Noch leicht taumelnd, nahm er seine Umgebung zunächst genauer in Augenschein. Die Quelle des Baches war auch in aufrechter Stellung noch nicht auszumachen. Die Hütte, auf die er bereits einen ersten Blick geworfen hatte, stand auf einem Platz, an dem das Gefälle des Hanges nur gering war, eine Art Sims oder Absatz. Dahinter schien sich der Rand einer Klippe zu befinden. Der Platz um die Hütte war eingezäunt. Ein Pferd zerrte dort an den spärlichen Grasbüscheln, die innerhalb der Begrenzung wuchsen. Bei einigen kleineren Verschlägen auf dem Gelände konnte es sich um Ställe für Hühner oder Ziegen handeln. Zwinkernd wegen des Staubs, den ihm der Wind in die Augen blies, wandte er den Blick nun der Gestalt zu, die sein Erwachen aus dem Dämmerzustand bisher regungslos verfolgt hatte. Der Mann hatte verschwitze dunkle Haare, die ihm ungeordnet am Kopf klebten, einen Stoppelbart über dem breiten Kiefer und einen untersetzten Körperbau, der zu diesem Gesicht passte. Der mutmaßliche Bewohner der einsamen Hütte begegnete dem Blick seines Gastes mit ausdruckslosen Augen und wandte sich dann plötzlich der Hütte zu, auf die er sich nun in gemächlicher Gangart zu bewegte, als würde ihn der Fremde nicht im Geringsten interessieren. Dieser folgte ihm mit unsicheren Schritten und fand schließlich die Kraft für ein erstes artikuliertes Wort: „Danke!“
Sein Retter sah kurz schweigend über die Schulter, ohne seinen Gang zu verlangsamen. Während der Wanderer der stämmigen Gestalt folgte, wurde ihm erst bewusst, dass die Hütte aus Bruchsteinen erbaut war, die offenbar von einem nahe gelegenen Ort stammten. Nicht weit entfernt waren die Grundmauern mehrerer verfallener Steingebäude zu erkennen. Der Neuankömmling nahm sich jedoch keine Zeit, sie genauer in Augenschein zu nehmen, sondern folgte dem Einsiedler in seine Behausung.
Das Innere der Hütte bestand aus einem einzigen Raum, der mit einem Tisch sowie einigen Stühlen und Regalen eingerichtet war. Eine Hängematte war in einer Ecke des Raums zwischen zwei Wandhaken aufgespannt. Kochgeschirr hing entweder ebenfalls an der Wand oder war in die Regale gestopft. Fenster, die mit schweren Holzläden versehen waren, befanden sich in allen vier Wänden. Gegenwärtig waren alle geschlossen bis auf zwei in der nördlichen Wand, die durch Stützen nur jeweils einen Spalt geöffnet waren und für das Dämmerlicht in dem großen Raum sorgten. Im Vergleich zu dem brennenden Wind draußen war es hier überraschend kühl.
Der Hüttenbewohner zog die Läden der nördlichen Fenster jetzt ganz hoch, wodurch nunmehr ausreichend Licht ins Innere fiel. Jetzt bemerkte der Gast das große Messer an der Wand, bei dem es sich auch um eine Art von Kurzschwert handeln konnte. Es wurde durch zwei lange Haken locker an der Wand gehalten, als müsste es stets griffbereit sein. Andere, kleinere Messer waren zusammen mit dem Kochgeschirr und einem großen Hackbeil eher achtlos in ein Regel gestopft. Als nächstes fiel der Blick des Fremden auf eine Bodenklappe, die wahrscheinlich zu einem Vorratskeller führte - eine ungewöhnliche Einrichtung für eine eher primitive Behausung wie diese. Mehr als alles andere zog aber die Hängematte die Aufmerksamkeit auf sich. Der Fremde taumelte auf sie zu, als hätte der Anblick ihm seine Müdigkeit wieder bewusst gemacht. Er blieb zögernd vor ihr stehen und sah zu seinem Gastgeber hinüber. Dieser nickte und sprach nun seinerseits die ersten Worte: „Nur zu. Scheinst es nötig zu haben.“ Die Stimme war undeutlich und etwas heiser, aber dennoch kräftig. Der Fremde zögerte immer noch. „Ich werd' dir schon nichts tun“, brummte der Einsiedler. „Wenn ich das wollte, hätte ich dich schon am Bach erledigen können.“ Der Fremde drehte sich erst langsam um und ließ sich dann schwer in die Hängematte fallen. Der Schlaf kam fast augenblicklich.
Als er erwachte, herrschte draußen Dunkelheit. Es schien noch ein wenig kühler geworden zu sein, obwohl ein Feuer im Kamin brannte. Der Einsiedler hatte anscheinend gerade eben einen Topf von einem Haken über dem Kamin genommen und auf den Tisch gestellt. Als der Fremde den Geruch wahrnahm, bewegte sich sein Kehlkopf auf und ab, als er seinen Speichel hinunterschluckte. Auf dem Tisch standen zwei leere Holzschalen, neben denen je ein Löffel lag. Der Fremde erhob sich umständlich aus der Hängematte, wobei er fast stürzte, und setzte sich dann wortlos auf einen Schemel vor einem der Teller. Der Kochtopf enthielt offenbar einen Eintopf aus Linsen und Fleisch. Nachdem sein Gastgeber je eine Kelle in die Schalen gegeben hatte, schaufelte der Fremde die heiße Nahrung mit einer gierigen Geschwindigkeit in sich hinein.
Читать дальше