„Was ich noch fragen wollte: Führen die Spuren von den Bergen in die Wüste oder ist es umgekehrt?“
„Kommen aus den Bergen.“
"Aha. Und was könnte sein Ziel sein? Was liegt in der Richtung?"
„Na was schon. Die beschissene Wüste. Sonst nichts.“
„Aber es muss doch irgendetwas dort draußen geben. Oasen zum Beispiel.“
„Das liegt alles ziemlich weit weg. Wenn man sich nach Südwesten hält und viel Glück hat, kommt man nach wer weiß wie vielen Tagesreisen nach Tepem. Das ist eine Oase nicht weit vom Tal des Jir. Den Fluss erreicht man natürlich auch, wenn man sich noch weiter westlich hält. Ziemlich genau Richtung Süden liegt der Serir-See, und zur Oase Dan Kasram kommt man in südöstlicher Richtung. Diese Oase ist aber noch weiter weg. Da bracht man schon 'ne Menge Wasservorräte und ein gutes Pferd oder ein Kamel. Deshalb reist man hier auch üblicherweise in einer Karawane. Erhöht die Aussicht zu überleben.“
„Könnte man nicht entlang der Berge oder in den Tälern reisen, Richtung Osten oder Westen? Dort hat man vielleicht bessere Bedingungen.“
„Nicht unbedingt. Im Westen der Berge fängt bald das Stammesland von Crin Ragh an. Vier Stämme teilen das Gebiet dort unter sich auf. Schlangenmenschen. Die sind nicht gerade freundlich gegenüber Fremden eingestellt.“
„Wie weit ist das denn ungefähr?“
Mulheg blieb stehen und deutete mit dem Zeigefinger in westliche Richtung. „Siehst du dort, wenn du zwischen dem Felseinschnitt hindurchsiehst, den Gipfel weit hinten, der südliche Hang steiler als der nördliche? Ungefähr dort fängt das Stammesland an. Zu Pferd etwa fünf oder sechs Tage. Sobald du abgeschlachtet wirst, bist du da."
Sie gingen stumm weiter, bis sie die Hütte erreichten. Bevor Mulheg hineingehen konnte, fragte Iered: „Was ist das da hinten eigentlich für eine Öffnung im Boden? Ein Steinbrocken ist daraufgerollt.“
„Das gehört zu den anderen Überresten. War wohl früher eine Zisterne. Ich hab' den Stein selbst draufgerollt, damit ich nicht zufällig reinfalle und mir den Hals breche.“
„Hast du eine Ahnung, was das für Ruinen sein könnten? Hast du vielleicht irgendwelche Geschichten gehört?“ Iered schien sich dies eher selbst zu fragen. In seinem Tonfall schwang bereits mit, dass er keine befriedigende Antwort von Mulheg erwartete.
„Nein. Jedenfalls keine zuverlässigen. Von den Wüstenvölkern - ich meine den heutigen - wird's keines gewesen sein. Die leben in Zelten oder Lehmhütten. Es gab hier vor Urzeiten mal Schlangenmenschen-Reiche, mit unaussprechlichen Namen. Eins davon könnte die Gegend hier beherrscht haben. Das ganze kümmert mich auch nicht besonders. Schätze findest Du hier auf jeden Fall keine.“
„Ja? Wie kannst Du da so sicher sein?“ Iered hatte ihm den Rücken zugedreht und betrachtete die Berggipfel. „Ich habe gehört, dass es früher in der Gegend - also auch in der Wüste Thakeb - mehr Regen gegeben haben soll. Es war vielleicht alles einmal fruchtbares Land. Als die Dürre kam, sind die Bewohner dieser Länder fortgezogen, auch ins Tal des Jir.“
„Was Du nicht sagst.“ Mulheg hatte die Hütte schon betreten und machte sich dort an der Klappe im Boden zu schaffen. Iered drehte sich um und beobachtete, wie sein Gastgeber in die Öffnung stieg und nach wenigen Augenblicken mit Brot und getrocknetem Fleisch wieder auftauchte.
„Ich könnte mal wieder einen Bissen vertragen“, sagte der Mann mit dem Stoppelart und der stämmigen Figur. „Du kannst Dir ruhig was mitnehmen, wenn Du weiterreist. Wo immer Du auch hinwillst. Es ist reichlich da.“
„Du scheinst ja ausgesprochen gut versorgt zu sein. Mit den Nomaden verstehst du wohl zu verhandeln.“
Mit leichter Verärgerung in der Stimme sagte Mulheg: „Erwarte nur nicht, dass ich dich hier noch wochenlang bewirte. Ich führe hier kein Gasthaus.“
„Oh, keine Angst, ich werde bald aufbrechen, vielleicht heute noch.“ Iered hatte den Raum betreten und sah durch eines der Fenster nach Süden, die nunmehr ebenfalls offenstanden. „Ich denke, ich werde die Berge verlassen. Mit Schlangenmenschen will ich mich nicht anlegen. Zumindest nicht mit den wilden. ich halte mich am besten südwestlich, bis ich den Fluss Jir erreiche. Ich bin zwar noch nie dort gewesen...“
„... aber bessere Aussichten, mit heiler Haut davonzukommen, hast du dort schon, das stimmt. Sind zwar alle seltsam und unberechenbar, diese Echsen, aber es leben ja auch richtige Menschen da“"
„Gut, und mit dem Proviant, den du mir freundlicherweise überlässt, und frischen Wasservorräten dürfte ich gut vorankommen. Ich werde mich gleich mal ans Packen machen. Aber vorher hole ich noch den Schatz, den du in der Zisterne versteckt hast.“
Die letzten Worte sprach Iered im gleichen Plauderton aus, in dem er das übrige Gespräch geführt hatte, doch ließ er Mulheg dabei nicht aus den Augen. Dieser drehte den Kopf in die Richtung des Gesprächspartners, dem er bislang nur halb zugewandt war. Für einen kurzen Augenblick fixierten sich die beiden Männer stumm. Plötzlich machte Mulheg eine blitzschnelle Bewegung zur Wand und griff mit einer Flinkheit, die er bisher mit keiner einzigen Regung hatte erahnen lassen, nach der Klinge an der Wand. Iered konnte nicht verhindern, dass Mulheg bereits mit der Waffe in der Hand zum Hieb ansetzte, bevor er seinerseits zum Gegenangriff übergehen konnte. Er versuchte erst gar nicht, sein eigenes Schwert zu ziehen, sondern stürmte auf Mulheg zu und versuchte dabei, dessen rechten Arm zu ergreifen. Er schaffte es tatsächlich, seinen Gegner vor dem Hieb zu erreichen und ihn an die Wand zu drängen. Der Versuch, ihm bei der Gelegenheit sein Schwert zu entreißen, war jedoch zum Scheitern verurteilt. Selbst den Arm konnte er nur kurz im Griff behalten, bevor dieser mit einer ungeahnten Kraft vorschnellte und ihn mit dem Ellbogen voran im Gesicht traf. Für kurze Zeit verlor Iered die Orientierung, während Lichter vor seinen Augen tanzten, so dass der Vorteil der Überraschung dahin war. Mulheg bewegte sich nun seinerseits auf den hageren Mann zu, der am Tisch in der Mitte des Raumes Halt gefunden hatte. Iered sah die Klinge bereits in einem eleganten Bogen zielsicher auf seinen Kopf zuschießen, als er die Kraft für eine verzweifelte Verteidigung fand. Er tauchte unter dem Hieb weg und rollte auf dem Boden auf die Beine seines Gegners zu. Er nahm dabei nur am Rande wahr, dass der Hieb seines Gegners die Tischkante traf. Es sah für einen Moment so aus, als hätte er den untersetzten Mann tatsächlich zu Fall bringen können, doch bewies dieser erneut eine erstaunliche Geschicklichkeit. Er stieß sich mit den Händen am Tisch ab und ließ sich gezielt auf seinen Gegner fallen, so dass beide Kämpfer nun kreuzförmig übereinander am Boden lagen. Mulhegs Gewicht trieb Iered die Luft aus den Lungen, was ihn aber nicht davon abhielt, nach seinem Schwert am Gürtel zu tasten. Die einzige Möglichkeit bestand darin, die Waffe frei zu bekommen und Mulheg in den Körper zu treiben. Sich des enormen Gewichts seines Gegners auf andere Art zu entledigen, war angesichts des Kräfteunterschieds aussichtslos. Mulheg durchschaute diese Absicht schnell. Er packte den tastenden Arm mit der einen Hand am Ellbogen und der anderen am Handgelenk und verdrehte ihn so schmerzhaft, dass Iered laut aufschrie. Dieser schlug nun mit seiner linken Faust auf das stoppelbärtige Gesicht seines Peinigers ein, ohne jedoch einen sichtbaren Schaden oder auch nur ein Anzeichen des Schmerzes bei diesem hervorzurufen. Stattdessen fand Mulheg jetzt sogar die Kraft zu sprechen: „Na, was sagst Du jetzt? Hast dich schon als Gewinner gesehen, was? Hast gedacht, heute ist dein großer Tag. Ich hab' schon ganz andere als dich...“ Der Rest des Satzes ging in ein unartikuliertes Geräusch über, eine Mischung aus Stöhnen und Würgen. Die Hände des dicken Mannes waren immer noch um den Arm seines Gegners verkrampft, doch hatten die Augen nun einen glasigen Blick bekommen, und die Arme schien den schweren Körper nicht mehr tragen zu können. Als der Rumpf sich auf den darunter liegenden Körper herabsenkte, spürte Iered plötzlich einen stechenden Schmerz in der Brust. Schließlich fand er doch noch die Kraft, sich der bedrückenden Last zu entledigen, indem er sie unter höchster Anstrengung beiseite rollte. Mulheg regte sich nicht mehr. Nun bemerkte Iered das Blut auf seiner Brust und an etwa der gleichen Stelle auf der Brust seines Gegners. Doch ragte dort zusätzlich ein spitzer, dünner Gegenstand aus der Mitte des Blutflecks, was wohl der Grund für die kurze Empfindung des stechenden Schmerzes in Iereds Brust war.
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