Je näher sie der Anlegestelle kamen, desto mehr verbanden sich nun auch Geräusche und Gerüche zu einem vertrauten Muster, das Kerim wohl auch mit verbundenen Augen jederzeit als die Stadt erkennen würde, in der er aufgewachsen war. Hin und wieder schloss er tatsächlich für einige Zeit die Augen, als würde dies seiner Erinnerung auf die Sprünge helfen. Wenn er die Augen öffnete, fiel sein Blick nacheinander auf einzelnen Gebäude des Hafens, dem Kurs des einlaufenden Schiffes folgend: zuerst die Häuser der nördlichen Lehmstadt, dann die Flussmündung, dann die ältesten Häuser der Steinstadt mit dem Leuchtturm in ihrer Mitte, dann die prunkvollen Häuser der wohlhabenden Kaufmannsfamilien, das Haus der Khadris-Familie...
Kerim beschloss unvermittelt, unter Deck zu gehen und Taref bei den Vorbereitungen zu helfen, anstatt weiter abzuwarten, bis das Schiff einlief. Es würde nicht mehr lange dauern, bis es die alles beherrschende alte Festung an der Kanalmündung passiert haben würde, um schließlich am Steinkai seinen vorläufigen Ruheplatz zu finden. Kerim eilte die Treppe hinab unter Deck, wo Taref die Arbeit fast schon beendet hatte. Kerim schaffte es jedoch, diese einfache Tätigkeit noch solange durch Ausräumen und erneutes Packen von Kisten und Koffern hinauszuzögern, bis das Schiff längst am Kai vertäut war.
Als er wieder an Deck kam, sah er dort zu seiner Überraschung inmitten des hektischen Durcheinanders einen Mann, der sich mit Kapitän Yandrol unterhielt, aber nicht zur Besatzung gehörte. Der Neuankömmling war in der farbenfrohen Art der elurnischen Kaufleute gekleidet. Einen Atemzug später erkannte Kerim ihn als seinen Bruder. Khamir hatte sich in den zwei Jahren der Abwesenheit kaum verändert, so dass Kerim sich fragte, weshalb er für einen kurzen Augenblick verwirrt gewesen war. Vielleicht war es einfach dessen plötzliches, unerwartet schnelles Erscheinen an Deck. Vermutlich hatte man Yandrols Schiff schon von weitem erkannt, so dass der Empfang entsprechend vorbereitet werden konnte. Jetzt fielen Kerim auch die Leute in Begleitung seines Bruders auf, die respektvoll Abstand hielten: der unvermeidliche Anhang, bestehend aus mindestens zwei Bediensteten, ohne die kein Kaufmann, der ein gewisses Ansehen genoss, außer Haus gehen würde. Kerim erkannte den Majordomus, der gleichzeitig die Aufgabe eines Leibwächters erfüllte, sowie den Leibdiener seiner Eltern, beziehungsweise nunmehr nur noch seiner Mutter.
Kerim wandte den Blick wieder seinem älteren Bruder zu, der sich bis eben noch mit heiterer Miene mit Kapitän Yandrol unterhalten hatte. Kerim fand diese Fröhlichkeit im Anbetracht der Umstände etwas unpassend, bis er sich erinnerte, dass die Heimkehr des Bruders durchaus ein Anlass zur Freude war.
Khamir hatte seinen kleineren Bruder jetzt entdeckt und kam ihm hastig mit strahlender Miene entgegen. Der Empfang war wie zu erwarten herzlich, fast stürmisch. Kerim musste sich erst wieder an die kräftigen Umarmungen gewöhnen, mit denen man hierzulande seine Freunde und Bekannten zu begrüßen pflegte. Es war erstaunlich, wie schnell ihn diese einfache Geste seine vorherige düstere Stimmung vergessen ließ und ihm bewusst machte, wie sehr er seine Stadt und seine Familie vermisst hatte.
„Kerim, willkommen zu Hause! Zwei lange Jahre! Lass dich ansehen.“ Sein Bruder musterte ihn kurz. „Du bist blass geworden. Dort oben hat die Sonne wohl wirklich nicht sehr viel Kraft. Aber das wird sich ändern. Zuerst werden wir ein großes Festmahl veranstalten. Wir haben uns so viel zu erzählen.“ Khamir schien etwas in Kerims Gesicht zu lesen. „Aber das hat Zeit. Komm, gehen wir zusammen nach Haus, ganz ohne Hast. Möchtest Du am Strand entlang oder durch die Stadt, über den Basar?“
"Das Gepäck und die Waren..."
„Mach dir keine Sorgen, das wird Taref schon allein hinbekommen. Ich habe mit Kapitän Yandrol schon das Wichtigste besprochen. Er ist ein zuverlässiger Mann. Er hat sicher gut auf dich aufgepasst.“
„Ja, er war oft eine große Hilfe. Aber was ist mit der...“
„Ja, ja, ich weiß, Tamur hat sich dessen schon angenommen. Er wird die Urne sicher für uns nach Haus bringen.“
Kerim sah sich um und entdeckte den Majordomus, wie er bereits mit dem in Leinen eingeschnürten Gegenstand in beiden Händen an Deck stand und zu ihnen hinüber sah. Er schien das Gespräch der Brüder gelassen abzuwarten. Kerim wandte sich wieder Khamir zu. Er konnte einen entschuldigenden Tonfall nicht ganz vermeiden, als er sagte: „Es entsprach zwar nicht genau Vaters Vorstellungen über die Zeremonie, aber es war die einzige Möglichkeit, dort eine Bestattung nach den richtigen Riten zu ermöglichen. Es war besser, die Überreste zu überführen. Die Verbrennung habe ich überwacht, sie benutzen dafür auch Brandgruben ähnlich den...“
„Lass es gut sein“, warf Khamir sanft ein, „hier ist nicht der richtige Ort
für solche Gespräche. Ich ziehe es vor, zunächst zu erfahren, wie es meinem lebendigen Bruder ergangen ist. Endlich sind wir wieder vereint.“
Kerim wusste für einen Moment nicht, welche Worte er wählen sollte, um das Gespräch fortzusetzen. Schließlich sagte er etwas unbeholfen: „Ich bin auch froh, wieder bei euch zu sein. Natürlich bin ich neugierig, was ihr - du mir zu erzählen hast.“
„Komm erst einmal von Bord, wir wollen den Männern nicht im Weg herumstehen.“ Khamir legte seinem Bruder die Hand auf die Schulter und schob ihn sanft in Richtung der Planke, die auf den Steinkai führte. Als sie auf das Ufer zugingen, deutete Kerim auf die Kogge zu ihrer Linken und fragte: „Wie oft laufen Schiffe der Tenarsons hier ein?“
Khamir schien kurz über etwas zu grübeln, antwortete dann aber wie beiläufig: „Ach, das ist ein Kommen und Gehen, fast das ganze Jahr über. Außer natürlich im Winter, wenn die Winde ungünstig sind.“
„Schattenzeit“, murmelte Kerim.
„Was?“
"Die Urdländer nennen es die Schattenzeit. Die kälteste Zeit im Jahr. Sie unterscheiden sechs Jahreszeiten, nicht vier. Aber das weißt du wohl schon.“
„Ich habe davon gehört. Nun, am Strand entlang oder über den Basar?“ Sie waren an der Hafenmauer angekommen.
"Ich würde gern durch die Stadt gehen." Dieser Weg würde länger dauern, was Kerim entgegenkam. Er musste sich eingestehen, dass er das zwanglose Geplauder mit seinem Bruder durchaus genießen konnte. Außerdem brannte er tatsächlich darauf, wieder durch das Gewimmel seiner Heimatstadt zu gehen und sich dabei an die Farben, die Geräusche und die Gerüche zu erinnern.
Sie schlugen den Weg in die Hafenstraße ein, die sie direkt zum Basar führen würde. An der zweiten Kreuzung kamen sie an einem Bettler vorbei, der an der Ecke im Schatten eines der neuen Steinhäuser auf der Südseite der Straße saß. Für Kerim war dies ein gewohnter Anblick, den er auch während seines Aufenthalts in der Stadt Imgalion hoch im Norden nicht hatte entbehren müssen. Der einzige Unterschied war, dass der Bettler hier in der üblichen Art der Inselleute gekleidet war. Er war der erste, den Kerim nach seiner Ankunft zu Gesicht bekam. Da er zur Linken seines Bruders ging, kam er nah an dem Mann vorbei, so dass dieser ihn ansprach. Zumindest glaubte Kerim das, als der Bettler murmelte: „Ein Almosen gegen das Verderben. Die Flut kommt.“
Kerim war nicht sicher, ob es wirklich das war, was er gehört zu haben glaubte. Er blieb stehen und wandte sich dem Bettler zu. „Was habt ihr gesagt?“
Der Bettler erhob nun leicht den Kopf. Die obere Hälfte seines Gesichts war zuvor durch das tief hinunter gezogene Kopftuch verborgen gewesen, doch nun erkannte Kerim zweierlei: Der Bettler war zwar schmutzig und ausgemergelt, doch noch recht jung. Die vermutliche Ursache für seinen erbärmlichen Zustand wurde nun sichtbar. Er war mit Blindheit geschlagen, allerdings wohl nicht von Geburt an. An der Stelle, wo seine Augen sein sollten, war grausig vernarbtes Gewebe zu sehen. Er sprach jetzt etwas deutlicher. "Bitte ein Almosen für einen dem Verderben anheim gefallenen Mann. Die Götter werden es euch danken.“
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