Der typisch sterile und ein wenig gewöhnungsbedürftige Geruch einer rechtsmedizinischen Einrichtung begrüßte sie bereits bevor sie die Tür zu den eigentlichen Obduktionsräumen aufgeschlossen hatte. Sie war schon bald nach ihrer Einstellung zur Leiterin aufgestiegen. Dr. Sutton, ein alter Kerl mit übelstem Humor, war zu dem Zeitpunkt bereits weit über siebzig gewesen und in den erzwungenen Ruhestand geschickt worden, wo er wenige Monate später verstarb. Lynne seufzte. Wahrscheinlich würde es ihr irgendwann genauso gehen. Seit sie hier war, lebte sie nur für ihre Arbeit.
Als das Licht mit einem leisen Surren des Bewegungsmelders anging, stellte Lynne zufrieden fest, dass man die Leiche bereits hergebracht hatte. Ein neuer Tag, neue Arbeit und hier sollte Dean doch nicht auftauchen.
Nachdem sie sich zwei Paar Latex-Handschuhe übergestreift und das Diktiergerät auf Funktionsfähigkeit überprüft und schließlich angestellt hatte, zog Lynne den Reißverschluss des schwarzen Sacks auf, schlug ihn zur Seite und erstarrte. Diese Augen! Sie würde sie nie vergessen.
Wankend wich sie einige Schritte vor dem Leichnam zurück, als könnte der Mann plötzlich zum Leben erwachen, herausspringen und… Reiß dich zusammen!, rügte sie sich, schloss die Augen und zwang ihren Atem wieder in ruhigere Bahnen. Nachdem sie sicher war, dass sie sich wieder unter Kontrolle hatte, ging sie zurück zum Obduktionstisch, um sich noch einmal zu vergewissern, dass ihr müdes Gehirn ihr nicht nur einen Streich gespielt hatte. Nein, er war es, zweifellos. „Percy Chesterway“, murmelte sie gedankenverloren. „Hast du also endlich gekriegt, was du verdienst.“
Erst nachdem sie die Worte ausgesprochen hatte, wurde ihr blitzartig bewusst, dass das Aufnahmegerät lief und sie griff sofort danach, um die gerade neu angelegte Datei zu löschen. Was machte sie eigentlich? Er war eine Leiche wie jede andere und es war ihre Aufgabe, nach der Todesursache und möglichen Hinweisen auf den Verursacher zu suchen, nicht über die Tat oder den verstorbenen Menschen zu richten! De mortuis nil nisi bene, belehrte sie sich selbst in Erinnerung an die Lateinvorlesungen während ihres Studiums. Und wenn ihr über diesen Toten nunmal nichts Gutes einfiel, dann sollte sie besser schweigen.
Lynne startete das Aufnahmegerät also noch einmal von neuem und machte sich endlich an die Arbeit.
Jemand schien in der Tat wütend auf den gutaussehenden, erfolgreichen Politiker gewesen zu sein. In vier Schussverletzungen fand sie Kugeln, die sie als 9mm identifizierte. Der zeitlich letzte Schuss in den Kopf stellte die Todesursache dar. Was sie unter den Fingernägeln herauskratzte, verpackte sie in Tüten, um sie ins Labor zu schicken. Ebenso die Kugeln, jede einzeln eingetütet mit der Aufschrift der jeweiligen Eintrittswunde. Während ihre Hände zu Beginn der Obduktion noch stark gezittert hatten, war sie nun glücklicherweise ganz in ihre Routine verfallen und wenn sie es mied, dem toten Mann ins Gesicht zu sehen, dann war er einfach wie jeder andere Tote auch.
Montag, 19. Oktober, 14.00 Uhr
Es tat gut nach aufmerksamer Präzisionsarbeit mehrerer konzentrierter Stunden wieder lebendige und lebensfrohe Menschen zu treffen. Nachdem Lynne die kompletten Obduktionsergebnisse vorliegen, sortiert und in Zusammenhang gebracht hatte, war sie auch wieder in der Lage, den Detectives gegenüber zu treten und ihnen Rede und Antwort zu stehen. Wie sie gehofft hatte, waren es Marc und Adrian, die ihr einen Besuch abstatteten und langsam glaubte sie wirklich daran, dass Marc sich ein ganz klein wenig darum riss, diesen Job zu übernehmen, obwohl er sich immer wie ein quengelndes Kind anstellte, wenn er längere Zeit in den geschlossenen Räumen der Rechtsmedizin zubrachte.
„Hey Lynne, Hübsche, was hast du für uns?“, grüßte Adrian fröhlich. Seit er in festen Händen war, war er viel charmanter und deutlich ausgeglichener als zuvor.
„Eine ganze Menge“, sagte sie. „Hallo erstmal.“ Sie küsste Adrian zur Begrüßung auf die Wange. Weil Samantha sie gebeten hatte, ihre Seminararbeiten auf Rechtschreibung und Inhalt zu prüfen, hatte Lynne schon manchen Abend bei ihr zugebracht und es war irgendwie schön, sich mit Adrian auch über Themen außerhalb der Arbeit zu unterhalten. Lynne hatte, abgesehen von den freiwillig erzwungenen Zusatzkursen, in denen sie sich für das Wahlfach Kunstgeschichte entschieden hatte, nicht viel Ahnung von der Materie, mit der Samantha tagtäglich zu tun hatte, doch sie hatte sich dennoch geschmeichelt gefühlt, dass Samantha ihr so viel Vertrauen entgegenbrachte. Mittlerweile waren sie beinahe Freundinnen; zumindest etwas, das über einfache Bekanntschaft hinausging. „Hi Marc.“
„Kriegt der etwa kein Küsschen?“, fragte Adrian keck. „Er konnte es kaum abwarten, hierher zu kommen.“
„Glover, merkst du nicht, dass du nervst?“, blaffte Marc ihn an. Seine Laune schien exponentiell zu Adrians aufsteigender Laune zu fallen. „Hi Lynne, lange nicht gesehen. Also, was hast du für uns?“
Er schenkte ihr nicht einmal einen flüchtigen Blick. Dann war er wirklich übel gelaunt. Im Grunde war es ja auch egal. Marc war verlobt, das war kein Geheimnis, und mit seiner Liebsten Carla war er viele Jahre zusammen. Schon als Lynne hier vor knapp vier Jahren angefangen hatte, waren sie ein Paar gewesen und wirkten nicht wie Frischverliebte. Darüber hinaus war Dean wieder in der Stadt und Percy tot auf ihrem Obduktionstisch – es brauchte momentan wirklich nicht noch mehr Männer in ihrem Leben.
„Also, der Kerl ist tot“, begann sie schließlich und ging um die Leiche herum, um den Monitor an der Wand einzuschalten, auf dem sie den Detectives Vergrößerungen und sonstige Auffälligkeiten zeigen konnte, von denen sie zuvor Aufnahmen gemacht hatte und die an der Leiche direkt nur schwer zu erkennen waren. „Sauberer Schuss in den Kopf. Ich gehe davon aus, dass ihr es mit einem Profi zu tun habt. Zumindest ist er in irgendeiner Weise an der Waffe ausgebildet. Jeder einzelne Schuss ist derart platziert. Er muss also auch genau wissen, wo es wehtut und was seine Verletzungen zur Folge haben.“
„So in der Art hat es Tom auch dargestellt.“
„Tom?“, fragte Lynne.
„Tom Bishop“, erklärte Adrian. „Weißer Raumanzug… SpuSi?“
Lynne nickte. Sie kannte den Leiter der Spurensicherung flüchtig.
„Sieht für mich nach einer Hinrichtung aus“, fuhr Adrian fort.
„Ja, das dachte ich mir auch“, stimmte Lynne zu. „Erst die Schüsse an Stellen, die wehtun, aber nicht unmittelbar zum Tod führen, und dann ein platzierter.“
„Bitte, sag mir, dass das da“, Marc zeigte auf die Stelle, an der normalerweise das Geschlechtsorgan des Mannes hätte sein müssen, „post-mortem geschehen ist…“
Lynne senkte den Blick. Sie hatte das Loch, welches anstelle des Penis zu sehen war, gesäubert und auf Spuren überprüft. Aus der Wunde war so viel Blut ausgetreten, dass das Herz zum Zeitpunkt der Gewalteinwirkung sehr schnell geschlagen hatte und der junge Percy noch quicklebendig gewesen war.
Marc deutete ihr zögerndes Schweigen korrekt. „Scheiße“, kommentierte er die Erkenntnis und Lynne sah in den betroffenen Gesichtern der Männer, dass sie sich eine andere Aussage erwünscht hätten.
Aber er hat es verdient, lag ihr auf der Zunge, doch die weise Stimme, die ihr wieder nil nisi bene ins Ohr flüsterte, hielt sie davon ab, ihre Gedanken laut auszusprechen. „Seine Identität ist euch wahrscheinlich bereits bekannt“, fuhr sie stattdessen fort und die Jungs nickten im Einklang. „Unter seinen Fingernägeln fand ich Spuren mit der DNA, die eindeutig auf ihn selbst zurückgeht. Ich nehme an, sie stammt von dem Blut, während er sich die Wunden zugehalten hat. Ansonsten hatte er immerhin 0,9 Promille Alkohol im Blut und seine zerstörte Nasenschleimhaut und die abgebrannten Härchen deuten auf eine nicht allzu unregelmäßige Koksgewohnheit hin.“
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