Lynne schlug ihren Kragen hoch und rannte zu ihrem silbernen Chevrolet Malibu. Das war ein gewisser Vorteil an ihrem Sieben-Tage-die-Woche- Job: Das Auto gehörte vollkommen ihr; keiner Bank, keinem Finanzunternehmen oder sonstigem Geldverleiher. Ebenso wie die behagliche Penthousewohnung in der Babylon Street, die doppelt so groß war wie das Häuschen, in welchem sie mit ihren Eltern gelebt hatte. Bis zum Sutton Children’s Medical Center am St. Mary Place waren es knapp fünf Meilen und bei der morgendlichen Verkehrslage in dieser Stadt würde Lynne dafür fast zwanzig Minuten brauchen.
Sonntag, 18. Oktober, 8.00 Uhr
Schlag acht Uhr passierte sie die sich automatisch öffnenden Glastüren des Kinderkrankenhauses und war keine zehn Minuten später in die freundlich hellblaue Ärztekluft gestiegen.
„Man könnte meinen, diese Kleider seien extra für dich entworfen worden. Die Farbe spiegelt exakt den Himmel in deinen Augen wieder.“
Lynne musste unweigerlich lächeln. „Alter Charmeur! Das sagst du doch nur, weil ich dir mal wieder deinen alten Hintern rette“, erwiderte sie neckend und umarmte Nigel zur Begrüßung.
„Ach Lynnie, du kennst mich einfach zu gut.“ Der grauhaarige Mann zwinkerte ihr zu und richtete sein Stethoskop neu, das von der Umarmung anscheinend ein wenig von seinem Platz verrutscht war. Nigel war ein äußerst pingeliger Mensch, was seine Doktorangewohnheiten betraf. „Eigentlich wäre es die Aufgabe eines jungen, attraktiven…“, er suchte nach dem passenden Wort, „Chirurgen, so etwas zu dir zu sagen. Oder nein – lass es lieber einen Anästhesisten sein.“
„Du meinst ein Drogenabhängiger ist besser als ein Alkoholiker?“, fragte Lynne scherzhaft.
Nigel seufzte. „Ich sage dir, Mädchen, wir Kinderärzte sind die einzigen rechtschaffenen Menschen auf diesem Planeten.“
„Ich bin Rechtsmedizinerin.“
„Ach was“, Nigel winkte ab. „Deine Ausbildung hast du hier zur Kinderärztin gemacht. Das Leichenauseinanderschnippeln kam erst später dazu. Im Grunde deines Herzens bist du dem anständigen Beruf immer treu geblieben. Was denkst du, warum du heute wieder hier bist?“
„Weil ich dir aus der Patsche helfe, du alter Besserwisser!“, erklärte Lynne und warf ein paar Untersuchungshandschuhe nach ihm. Wäre Nigel ihr Vater gewesen, dann wäre wohl vieles besser gewesen. „Komm schon, was hast du für mich?“
„Die Notfallambulanz“, sagte Nigel ohne Umschweife. „Ich habe zurzeit zwei Problemkinder auf Station. Leukämie und Dialyse. Ich hoffe heute noch auf eine neue Niere. Und auf eine Knochenmarkspende.“
„Beides an einem Tag? Du bist entweder vollkommen verrückt oder immer noch viel zu idealistisch.“
„Wie ich bereits sagte: Die letzten rechtschaffenen Menschen, Lynnie.“ Mit diesen Worten verließ er den Umkleideraum, um sich an die Arbeit zu machen.
Lynne seufzte. Sie selbst hatte damals genau aus dem Grund eine andere medizinische Richtung eingeschlagen. Eltern sagen zu müssen, dass ihr Kind die Krankheit nicht überleben wird, war einfach zu belastend. Oder das Wissen, misshandelte Kinder wieder in die Obhut der Menschen geben zu müssen, die ihnen diese grauenvollen Dinge überhaupt erst angetan hatten.
Die sonntägliche Notfallambulanz war da vorteilhafter. Wenn die Sache wirklich todernst war, dann konnte sie die Kinder mitsamt ihren Eltern in den OP schicken und damit auf Station und in andere ärztliche Hände überweisen. In den übrigen, glücklicherweise zahlreicheren Fällen von Löchern in Köpfen, hohen Fieberattacken oder plötzlicher Erkältungssymptome, war man als Notfallarzt meistens der Held des Tages.
In dieser Überzeugung raffte Lynne sich auf. Sie grüßte die Schwester am Empfang, die seit eh und je dasselbe lustige gelbe Shirt mit der aufgedruckten Ente in Doktoruniform trug und wie eh und je freundlich und viel zu laut „Guten Morgen, Dr. Cooper“ quäkte, als sei das Bild auf ihrem Oberteil eine Fotografie ihrer selbst. Lynne grüßte ebenso freundlich, nur mit gedämpfterer Stimme zurück und verzog sich schnell in das Behandlungszimmer. Ein Blick in den Warteraum hatte ihr gezeigt, dass noch keine Patientin gekommen waren, insofern war es entweder eine ruhige Nacht gewesen oder der zuständige Kollege hatte gute und effektive Arbeit geleistet.
Lynne war froh, ihre Unterlagen mitgebracht zu haben. Auf diese Weise konnte sie wenigstens noch einen Teil ihrer eigentlichen Arbeit erledigen, so dass sie in der kommenden Woche nicht wieder jeden Tag bis spät abends in der Rechtsmedizin festsaß. Wobei… zu Hause wartete ja keiner auf sie.
Sonntag, 18. Oktober, 12.30 Uhr
Der Vormittag gestaltete sich als weitaus stressiger als angenommen und bis zur Mittagszeit war Lynne keine Akte weit gekommen. Ständig waren neue Elternteile mit ihren kleinen Patienten eingetroffen und Lynne war nur mit Abhören und Rezepteschreiben beschäftigt.
Als sie gerade die Tür öffnete, um sich einen kleinen „Sonntagsimbiss“, eine von Woche zu Woche wechselnde Spezialität aus der Cafeteria zu besorgen – dem einzigen Ort, den sie in ihrem neuen Job vermisste – stand schon wieder ein Vater mit seinen zwei blassen Jungs am Anmeldetresen. Der Größere der beiden hustete beinahe keuchend, während der Kleinere, der auf dem Arm des Vaters saß, stumm vor sich hin fröstelte.
Lynne verdrehte genervt die Augen. Da geht sie hin, meine Mittagspause. Den Sonntagsimbiss gab es leider nur bis um eins. Vielleicht hätten die Jungs es auch überstanden, eine halbe Stunde im Wartezimmer auf ihre Behandlung zu warten, doch irgendwo besaß Lynne eine selbstzerstörerische Ader und deshalb schloss sie die Tür wieder und gab der durch die Seitentür eintretenden ‚Entenschwester‘ Bescheid, dass sie die Patienten hereinbitten konnte.
Leider bevor sie sich die auf den Akten vermerkten Namen angesehen hatte und als die Aufgerufenen hereintraten, traf Lynne beinahe der Schlag.
Glücklicherweise schien es ihrem Gegenüber genauso zu ergehen.
„Dean, was machst du denn hier?“, stotterte Lynne.
Der Angesprochene lächelte freundlich und um den Mund bildeten sich dabei vereinzelte Fältchen. „Dasselbe könnte ich dich fragen. Ich wusste nicht, dass du Kinderärztin bist…“
„Bin ich nicht“, sprudelte es aus Lynne heraus und sie biss sich sofort auf die Lippen. Scheiße, was redest du denn da? Natürlich bist du Kinderärztin!
Der Mann mit den rötlichen Haaren zog die Brauen hoch. Mit dem Daumen zeigte er in Richtung Tür. „Aber… das ist doch die Kinder-Notfallambulanz, oder? Man hat mich hier hereingeschickt.“
„Ja, das ist auch richtig“, erklärte Lynne und spürte, wie ihre Hände feucht wurden. Wie lange hatte sie ihn nicht mehr gesehen? Zwölf Jahre? Sie war damals sechzehn gewesen. „Ich helfe hier aus.“
„Aber du bist schon Ärztin?“, rückversicherte er sich mit fragendem Blick.
Lynne senkte verschämt ihren Blick. „Ja. Zumindest steht auf meinem Schild ‚Lynne Cooper M.D.‘“
Er lachte. Herzhaft. Ehrlich. „Wow. Das ist toll. Es freut mich, dass es dir gut geht.“
„Ja“, sagte Lynne gedehnt und nickte dann zu dem kleineren Jungen. „Er sieht dir sehr ähnlich.“
„Ja, nicht wahr? Aber der Große ist das Abbild von Jennifer.“ Er plauderte wie alte Bekannte das für gewöhnlich taten. Nur, dass sie eben mehr als nur Bekannte gewesen waren.
„Was fehlt ihnen denn?“, fragte Lynne und versuchte, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.
„Ich hoffe, das kannst du uns sagen. Sie haben Schüttelfrost und husten beide.“
„Fieber?“
Dean nickte. „Ja. Mein kleiner Clark noch höher als sein Bruder.“
Lynne begann mit der Routineuntersuchung, hörte die Jungen ab und schaute ihnen in Mund und Ohren. „Ich dachte, du lebst jetzt in…“, sie stockte. Sie wusste es nicht. Hatte es nie erfahren.
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