Das Smartphon klingelte. Anhand der Tonfolge wusste Knoop, er sollte an einen Termin erinnert werden. Trotzdem schaute er unbewusst auf seine Armbanduhr. Tatsächlich, es war schon gleich acht Uhr. Van Gelderen, sein Chef von Kommissariat 11, hatte zu dieser Zeit eine Dienstbesprechung angesetzt. Knoop griff im Vorbeigehen nach seiner grünen Lederjacke und hatte sie übergestreift, bevor er den Raum verließ.
Als Knoop den Besprechungsraum betrat, waren fast alle Kollegen der Abteilung anwesend. Die Männer und Frauen standen in kleinen Gruppen zusammen und unterhielten sich. Auch van Gelderen war in ein Gespräch mit seinem Stellvertreter Sakalewski und einem weiteren Kollegen vertieft. Knoop glaubte, der Typ hieß Krüger, war sich aber nicht sicher. Er hatte mit ihm noch nicht zusammen gearbeitet. Tom Krüger war ein Riese von Gestalt. Er war bestimmt so um die Einmeterneunzig groß. Er trug immer einen Anzug, wobei er stets auf eine Krawatte verzichtete. Krüger hatte Ambitionen. Er war erst seit einem Jahr als Quereinsteiger in die Abteilung gekommen. Zuerst hatte es den Anschein als wolle man ihn als Nachfolger van Gelderens aufbauen. Aber Krüger hatte wohl andere Ambitionen. Er sah sich noch am Anfang seiner Karriereleiter. Offensichtlich bekam Krüger Anweisungen. Van Gelderen spielte dabei mit seiner Brille Propeller. Plötzlich schaute er auf seine Uhr. Ein paar hastige Sätze folgten. Krüger nickte mehrmals. Die Gruppe ging auseinander.
Sakalewski klopfte mit dem Zeigefinger auf den Tisch. Augenblicklich wurde es im Raum still. Jeder suchte sich einen Platz. Die Leute um den Chef wählten einen Platz in seiner Nähe. Die anderen ließen sich dort nieder, wo gerade Platz war. Nur van Gelderen blieb stehen. Er begrüßte die Anwesenden. Ein Murmeln der Anwesenden sollte wohl eine Erwiderung des Grußes sein. Der Chef der MK1, wie das Mordkommissariat 1 abgekürzt wurde, war knapp Einmeterachtzig groß. Er trug kurzgeschnittene Haare, die über alle Maßen weiß waren. Dieses hatte ihm den Spitznamen Albino eingebracht. Heute trug er eine Anzugkombination mit dunkelvioletter Jacke und schwarzer Hose. Das hellrote Hemd war am Hals offen geknüpft.
„So, bevor Kollege Sakalewski gleich die Abstimmung der Ergebnisse aus den alten Fällen vornehmen wird, werde ich Sie über zwei Sachen informieren: Einen Neuzugang und eine neue Kommission. Ich begrüße als Neuzugang auf Zeit den Kriminalassistenten Carlos Laurenzo. Herr Laurenzo wird einige Wochen mit uns zusammenarbeiten. Ich persönlich werde mit den Kollegen sprechen, die Herrn Laurenzo unter ihre Fittiche nehmen. Für welche Aufgaben wir Kollege Laurenzo betrauen können und so weiter.“ Er schwieg, schaute in die Runde, ob jemand eine Hand hob. Als dies nicht der Fall war, räusperte er sich, bevor er weitersprach.
Knoop nahm aus den Augenwinkeln wahr, wie sich jemand erhob. Weil diese Praxiskennenlerner schneller wieder verschwanden als sie gekommen waren, war ihm diese Person keine Kopfbewegung wert. Carlos Laurenzo schien sich zu verbeugen, denn eine Vielzahl von Kollegen klopfte anerkennend auf die Tischplatten.
„Herr Laurenzo, ich wünsche Ihnen viel Erfolg. Fühlen Sie sich bei uns wohl und wenn Sie Fragen haben, wenden Sie sich getrost an mich. So, nun möchte ich Sie alle über eine neue Kommission informieren. Gestern Vormittag hat die Gruppe bestehend aus mir und den Kollegen Krüger und Wimmer die Arbeit bei einer weiblichen Leiche aufgenommen.“
Gestern? Knoop fragte sich, weshalb er das Gestern verpasst hatte. Ach ja, richtig! Er hatte gestern einen Zahnarzttermin gehabt. Das Bohren und die Wurzelbehandlung hatten ihm zugesetzt. Dazu kam der Schmerz, der ihn zum Zahnarzt getrieben hatte. Weil nichts Wichtiges auf seinem Schreibtisch lag, hatte er sich den Rest des Tages freigenommen und sich krank gemeldet. Er hätte auch den Rest des Tages an seinem Schreibtisch verbringen können, aber er hatte geglaubt, daheim am schnellsten wieder fit zu werden.
Van Gelderen fuhr indessen weiter fort: „Ich bin ja schon lange im Geschäft, aber einen solchen Fund habe ich noch nie erlebt. Sie werden gleich sehen warum. Der Name der Frau ist noch nicht bekannt. Fundort ist der Friedhof Bergheim an der Lohstraße im Bezirk Rheinhausen. Die Frau ist auf einer gepflegten Grabstelle abgelegt worden. Die Stelle war hergerichtet als liege die Leiche hier zur letzten Ruhe. Ob dies durch die Täter geschah, muss ermittelt werden. Es ist aber anzunehmen, dieses Grabarrangement geschah durch den oder die Täter. Der Fundort ist höchst wahrscheinlich auch der Tatort. Aber jetzt kommt’s. Die Leiche ist herausgeputzt worden, wie es keine Frau machen würde. Höchstwahrscheinlich nach dem Ableben wurde sie geschminkt. Wir nehmen an, von den Tätern selbst. Diese haben das Gesicht grotesk gestaltet. Wahrscheinlich will man sich so über jemanden lustig machen, oder aber eine unbekannte Person abschrecken.“
Typisch Albino, dachte Knoop. Er gibt die Erklärung schon vor, statt die Kollegen zu fragen, wie sie dieses Erscheinungsbild deuten würden. Seine Einschätzung hatten die Kollegen zu übernehmen. Leise klopfte Knoop mit dem Kugelschreiber auf seinen Notizblock.
Van Gelderen öffnete die vor ihm liegende Mappe und entnahm ihr ein Bild. Dieses zeigte er in mehrere Richtungen, bevor er es an die Magnettafel heftete. Das Gesicht hatte in der Tat etwas Clownhaftes. Der Lippenstift war zu breit aufgetragen. Die Augenhöhlen waren getuscht. Dadurch erschienen die toten Augen so als habe man sie entfernt. Das Makeup der Backen war ebenfalls eine Spur zu deutlich gerötet, so als hätte das Gesicht einen Sonnenbrand. Die Wimpern waren getuscht, aber so linkisch, weil Tuschespritzer über den Augenbrauen erkennbar waren. Die Haare sollten wohl gekämmt werden. Die Täter hatte dies aber aufgegeben, weil ihre Verfilzung ein Kämmen unmöglich machte.
Ein Raunen ging durch die Reihen. Einige machten scherzhafte Bemerkungen über die Schönheit der Frau. Aber keiner wollte angesichts der Situation so recht darüber lachen. So stellte sich die Ruhe im Besprechungszimmer quasi von selbst wieder ein.
„Die Tote ist wahrscheinlich erstochen worden. Die Obduktion läuft bereits. Wahrscheinlich werden wir heute Nachmittag schon einzelne Ergebnisse mitgeteilt bekommen. Die Gruppe, die an dem Fall arbeiten wird, trifft sich um 16.00 Uhr hier in diesem Raum. Dann werden die Ergebnisse vorgestellt. Bis dahin muss aber noch einiges getan werden.“
Knoop wusste, nun kam die Aufgabenverteilung. Seine Erfahrung besagte, man würde ihn mit wichtigen Untersuchungen kaum betrauen. Er schaltete deshalb ab und richtete seine Gedanken wieder auf den Babymord. Wie konnte er den Nachweis erbringen? Kaum hatte er sich gedanklich an den Tatort begeben, als er seinen Namen hörte. Überrascht schaute er auf. Er schaute in die ärgerliche Mine seines Chefs.
„Herr Knoop, Sie haben doch im Moment nur den Babyfall. Stellen Sie den etwas zurück.“
Wenn van Gelderen von Zurückstellen sprach, dann bedeutete dies, er, Knoop, solle diesen Babyfall nebenher machen oder einfacher ausgedrückt, neben dem Bearbeiten, was van Gelderen ihm nun auftrug. Mit keiner Mine zeigte Knoop, ob ihn dies störte. Statt dessen schaute er seinen Chef erwartungsvoll an. Dieser setzte seine Brille auf, um etwas von seinen Aufzeichnungen abzulesen.
„Bringen Sie doch in Erfahrung, ob man im Umkreis des Tatortes irgendetwas gesehen oder bemerkt hat.“ Van Gelderen lugte über den oberen Rands seiner Augengläser.
„Allein?“ Knoop gab seiner Stimme einen möglichst naiven Klang.
„Selbstverständlich!“, wurde er angemotzt. „Oder brauchen Sie dabei Hilfe?“
Knoop schüttelte seinen Kopf. Er sah mit Genugtuung, wie er mit einer kleinen Frage seinen Chef in Rage gebracht hatte. Den wütenden Blick seines Vorgesetzten erwiderte er so lange, bis dieser sich Krüger zuwandte. Krüger sollte die Suche nach Vermissten, Unfallopfern übernehmen und die Fahndung koordinieren. Knoop hörte gar nicht mehr hin. Sonst würde er sich nur ärgern, welche interessanten Aufgaben Krüger zugeteilt wurden. Er wusste, wo der Tatort lag. Der Friedhof war mit einer knapp drei Meter hohen Mauer eingefasst. Nur über einige Tore aus Schmiedeeisen konnte man die Ruhestätte betreten. Was eigentlich dazu bestimmt war, Grabschänder oder Blumendiebe während der Dunkelheit vom Betreten abzuhalten, erlaubte bei der vorliegenden Straftat nun den Tätern ziemlich ungestört, ihrem Handwerk nachzukommen. Zuerst musste er in Erfahrung bringen, wie der Zugang zum Begräbnisfeld geregelt war. Es handelte sich um eine katholische Einrichtung. Er würde zur katholischen Kirchengemeinde Rheinhausen fahren müssen.
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