„Das würde ihr nichts bringen“, überlegte Ildigo „Ich glaube, sie ist von Natur aus boshaft. Sie kann nicht ertragen, dass Sigrun glücklich ist. Dabei hält die Eraindi sie nach wie vor für ihre beste Freundin!“
„Ortrud ist eine klassische Energie-Räuberin“, meinte Ildigos Vater Shakir. „Sie vermag nicht genügend innere Sicherheit aus ihrem Selbstverständnis zu schöpfen. Um sich komplett zu fühlen, braucht sie Energie von außen. Darum sucht sie Menschen, deren Energie sie rauben kann.“
„Ich fürchte, es geht nicht nur um Energie-Raub. Letztlich hatte ich das Gefühl, dass Ortrud versucht, den Willen der Eraindi zu unterlaufen und ihr unterschwellige Befehle zu erteilen“, berichtete Ana. „Ich habe ihre Absicht mit einem Störimpuls unterlaufen.“
„Auf Dauer wird das nicht reichen“, meinte Bodir besorgt. „Ihr könnt nicht immer da sein, wenn Ortrud die Eraindi manipuliert.“
„Wir müssen den König dazu bringen, dass er Ortrud endgültig fortschickt!“ schlug Ildigo vor.
„Eure Gegnerin ist nicht Ortrud“, mahnte Shakir. „Sie ist nur die äußere Manifestation des Dämons, den die Eraindi an ihrer Brust nährt. Beseitigen wir sie, tritt jemand anders an ihre Stelle. Die Eraindi kann sich nur selbst befreien.“ Als ihn die jungen Damen fragend ansahen, erläuterte Shakir: „Ich weiß, wovon ich rede. Ich nährte jahrelang den Dämon der Rache an meiner Brust. Er wechselte ständig sein Gesicht. Kaum, dass ich meinte, am Ziel zu sein, begegnete er mir in neuer Gestalt. Beinahe hätte er mich zerstört. Erst als ich den Gedanken an Rache endgültig begrub, fand ich meinen Frieden.“
„Ihr seid dadurch nicht milder geworden, Vater“, stellte Ildigo fest.
„Das erscheint Dir so, weil ich Dir keine Nachlässigkeit durchgehen lasse. Eines Tages wirst Du meine Strenge zu schätzen wissen!“ Shakir sah seine Tochter gedankenverloren an. „Es war ein langer Weg, bis ich mein Ego zurücknehmen und in Demut dienen konnte. Was ich gelernt habe, versuche ich Dir zu vermitteln: nimm den Dir zugewiesenen Platz ein. Erfülle ihn mit ganzem Herzen und mit voller Kraft – auch wenn es hart ist. Wenn Du in Einklang mit dem Fluss des Lebens bist, schwimmen eines Tages die Leichen Deiner Feinde an Dir vorbei.“
„Wie können wir die Eraindi dabei unterstützen, sich selbst zu helfen?“ wollte Ana wissen.
„Stärkt ihre Abwehrmechanismen“, schlug Shakir vor. „Unterweist die Eraindi ein wenig in Hexerei. Sie kann lernen, Energieströme wahrzunehmen und Schilde aufzubauen. Eines Tages wird sie dem Dämon gegenüberstehen, der ihr die Lebenslust nimmt. Dann muss sie ihn aus eigener Kraft besiegen!“
Ana und Ildigo begannen vorsichtig, die Eraindi in die Geheimnisse der Zauberei einzuweihen. Sie erklärten ihr, dass die Welt eine Illusion aus fließender Energie war. Jedes Wort und jede Handlung löste einen Energiestrom aus, der irgendwo seinen Niederschlag fand. Energie ging niemals verloren. Jede Erkenntnis, die man sich erarbeitet hatte, blieb in der Chronik des Lebens gespeichert. Damit stand sie allen Menschen zur Verfügung. Jeder einzelne trug die Verantwortung für sein Handeln. Anderen zu schaden produzierte destruktive Energie, die man in den kommenden Leben mühevoll auflösen musste. Ein Zauberer war niemals wehrlos gegen energetische Angriffe. Wenn seine Entschlossenheit stärker war als der feindliche Impuls, so drang die manipulative Intervention des Gegners nicht zu ihm durch. War er schwach und unentschlossen, öffnete er sich für jegliche Art von Einflussnahmen.
Sigrun hörte sich die Ausführungen und Demonstrationen ihrer Hofdamen interessiert an. Sie experimentierte damit, das Wissen auf ihre Umgebung anzuwenden. Gegen Ortrud konnte die Eraindi allerdings nichts ausrichten. So blieben die Bemühungen ihrer Hofdamen ohne Wirkung. Ana und Ildigo mussten tatenlos zusehen, wie Sigruns Kräfte schwanden.
Ortrud traktierte auch die beiden mit ihrer Bosheit. Ana und Ildigo jedoch stützten sich gegenseitig. Das Auffangsystem der Xalmeidas ließ nicht zu, dass Ortrud einen Keil zwischen die Mädchen trieb. Mutter Choja räumte sofort alle Zwistigkeiten aus und versorgte die beiden mit frischer Energie.
Sigrun hingegen mangelte es an Quellen positiver Energie. Das Leben im Palast war eintönig und die Menschen blieben ihr fremd. Ihr Gatte hatte zu wenig Zeit für sie. Sigrun litt an Heimweh. Den halben Tag saß sie regungslos am Fenster und träumte von verschneiten Wiesen und den wohlbekannten Gerüchen im Winterlager der Almanen. Ortrud war die einzige Person, mit der sie die Sehnsucht nach der Heimat teilen konnte. Obwohl Sigrun mittlerweile spürte, dass die Freundin ihr nicht gut tat, mochte sie auf deren Gesellschaft nicht verzichten. Wie eine Süchtige bettelte sie Ortrud um das Gift, das sie zerstörte. Je länger der Winter sich hinzog, desto schwächer wurde die Eraindi. Jegliches Leben schien aus ihrem jugendlichen Körper gewichen.
Mauro beobachtete die Entwicklung mit Sorge. Er gab sich redlich Mühe, seine Liebste aufzuheitern. Natürlich war ihm Ortruds destruktiver Einfluss nicht verborgen geblieben. Er gab ihr die Hauptschuld am Elend seiner Gattin.
Eines Mittags stand er unverhofft vor Sigrun. „Ich habe alle Termine abgesagt. Komm Liebste, lass uns ausreiten. Das hast Du Dir schon lange gewünscht. Wir haben genügend Zeit, um einen weiten Bogen zu machen. Ich zeige Dir persönlich die Stelle, wo Barren mich beinahe ertrinken ließ!“
Sigrun winkte ab: „Ich kann nicht mit Euch reiten. Ich bin zu schwach…“
„Unsinn“, sagte Mauro. „Du bist doch nicht krank. Du braucht bloß ein bisschen mehr Leben um Dich. Das Herumsitzen ermüdet Dich. Rappel Dich auf, es wird Dir gut tun!“
„Hört Ihr nicht, dass es der Eraindi schlecht geht?“ schnauzte Ortrud ihn an. „Nehmt gefällig ein wenig Rücksicht auf das Goldstück, das Ihr Euch geangelt habt. Mit Euren Anforderungen macht Ihr sie kaputt. Habt Ihr denn gar kein Einfühlungsvermögen?“
Die anwesenden Damen hielten den Atem an. Wie konnte Ortrud es wagen, so respektlos mit dem König zu reden?
Auch Mauro war einen Moment lang verdutzt. Dann wurde er wütend. Er packte Ortrud am Hals und drückte sie gegen die Wand: „Du wagst es, Dich in meine Eheangelegenheiten einzumischen? Was meinst Du eigentlich, wer Du bist?“ Er stieß sie zum Fenster und warf ihr einen Besen nach: „Mach den Abflug, aber sofort. Dich möchte ich in meinen Gemächern nicht wieder sehen!“
Ortruds Blick ging vom Fenster hinunter in die Tiefe. Man hatte ihr nie beigebracht, einen Besen zu fliegen. Wenn sie des Königs Anordnung Folge leistete, war das ihr sicherer Tod.
Das wusste auch Sigrun. Weinend warf sie sich vor ihrem Gemahl auf die Knie und bettelte um der Freundin Leben. Als er nicht einlenken wollte, umfasste sie seine Knie und schlug ihren Kopf auf den Boden. „Nehmt mir nicht die einzige, die mich mit der Heimat verbindet“, wimmerte sie unter Tränen. „Niemand hier akzeptiert mich. Mit keiner anderen kann ich in meiner Sprache reden. Ist sie fort, dann bin ich in der Fremde ganz allein!“
„Sorgt endlich dafür, hier nicht mehr fremd zu sein!“ schimpfte Mauro. „Jammern ist keine Lösung. Ich hatte es auch nicht leicht, als ich hier ankam!“ Dann wurde sein Tonfall etwas milder: „Ich habe nie behauptet, dass es einfach sein würde, die Frau an meiner Seite zu sein. Doch Ihr gebt Euch überhaupt keine Mühe. Was ist aus der stolzen Almanenprinzessin geworden, die erhobenen Hauptes durch die Reihen der Furukim ritt? Ist dieses Häufchen Elend alles, was von ihr übrig blieb?“
„Nein, das ist bloß ein vorübergehendes Stimmungstief“, sagte Sigrun tapfer und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen fort. Dann richtete sie sich auf: „Ich werde mit euch ausreiten. Vielleicht tut es mir tatsächlich gut. Doch lasst meine Freundin am Leben. Ich möchte selbst entscheiden, wann ich auf sie verzichten kann!“
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