Er küsste Inge, und sie schliefen noch ein zweites Mal miteinander.
Als Kleinster in der Klasse und noch dazu als jüngster von fünf Söhnen brauchte man genug Durchsetzungskraft, um nicht untergebuttert zu werden. Fred Beyer war mit 17 Jahren gerade einmal ein Meter vierundsechzig groß, viele gleichaltrige Mädchen überragten ihn deutlich und auch der Arzt, den die Eltern angesprochen hatten erklärte, dass sein Wachstum angeschlossen sei und es bei dieser Größe bleiben würde. Er hatte vor der Wahl gestanden, den Klassenclown zu geben und seinen geringen Wuchs durch Witz zu kompensieren, oder sich auf andere Weise Respekt zu verschaffen. Zum Kasper hätte er genug Talent gehabt, denn er las gern, hatte eine rege Phantasie und verfügte über eine ordentliche Stimme und Mimik, er entschied sich dennoch dagegen. Wer seinen schmalen Körper, der in den Sachen zu schlottern schien sah, konnte nicht ahnen, dass er einen durchtrainierten Jungen vor sich hatte.
In der achten Klasse fragte er seinen Sportlehrer, ob er bei den Boxern mittrainieren könnte. Der Mann sah ihn abschätzend an und murmelte etwas wie „bist doch bloß Haut und Knochen, keine Muskeln, kann ich nicht riskieren, die hauen dich Fliege doch gleich um“. Inständig bat er den Lehrer ihm eine Chance zu geben, der willigte schließlich ein und gab ihm den Auftrag Krafttraining zu absolvieren. Jeden Tag nach dem Unterricht plagte Fred sich an den Geräten in der Turnhalle, manchmal wollte er aufgeben wenn seine Arme und Beine zu zittern begannen, er tat es aber nicht und binnen eines Monats hatte sich sein Bizeps schon deutlich vergrößert. Zusätzlich lief er nach dem Abendbrot mehrere Runden auf dem Sportplatz, er würde Beinkraft benötigen. Sein Appetit war enorm, oft wurde er nicht richtig satt, seine Brüder bekamen größere Portionen.
Als er der Meinung war, dass seine Kondition gut genug sein und er nicht gleich beim ersten Treffer umfallen würde, ging er wieder zum Sportlehrer. Der musterte ihn von oben bis unten, Fred hatte schon Sportkleidung an, und nickte dann nur wortlos. Im Trainingsraum roch es nach kaltem Schweiß und dreckigen Socken, es störte ihn nicht. Der Trainer wies ihn an den Sandsack zu bearbeiten, und als er damit begann beobachtete er den Jungen aufmerksam. Er hatte sich durch den schmächtigen Körperbau nicht täuschen lassen, seine lange Arme und Beine wiesen für einen Boxer günstige Körperverhältnisse auf. Tänzelnd drosch Fred Beyer auf den Sandsack ein, noch ungelenk, aber ohne außer Atem zu kommen, das Konditionstraining hatte sich gelohnt. Der Trainer ließ ihn eine Weile gewähren und sagte dann nur: „Stopp.“
Fred stand vor ihm, sein Atem ging ruhig und kein Schweißtropfen war zu sehen.
„Na ja, für den Anfang gar nicht so übel“ sagte der Mann.
„Wenn du willst, kannst du mitmachen. Aber merke dir: hier wird Disziplin verlangt. Wir trainieren jeden Dienstag und Donnerstag. Als Entschuldigung gilt nur Krankheit oder Tod, verstanden?“
Fred Beyer nickte ein Verstanden und verschwand in den Duschraum.
Ein euphorisches Gefühl durchdrang ihn, auf dem Heimweg hüpfte er ausgelassen ab und an in die Höhe.
Hermann Weber war ein Mann mit Grundsätzen, das Abendbrot musste Punkt 19 Uhr auf dem Tisch stehen, seine Frau würde ihm ein temperiertes Bier auf den Tisch stellen und während des Essen hatte Stille zu herrschen. Danach erwartete er Bericht seines Sohnes über den Tag in der Schule, war der ihm nicht ausreichend fragte er unerbittlich nach, so dass Günther Weber nicht anders konnte, als alles zu erzählen.
„Ich habe heute die Verpflichtung zur SS-Verfügungstruppe unterschrieben“ fing er an, der Blick seines Vaters wurde wach.
Hermann Weber war als einfacher Soldat 1914 in den Krieg gezogen und 1917 wegen Tapferkeit Offizier geworden. Von jeher hatte er seinen Sohn für das Militärische begeistern wollen, es war ihm scheinbar gelungen. Gut, dass er sich zur SS gemeldet hatte war nicht nach seinem Geschmack, die Leute schienen ihm zu laut und zu gewöhnlich. Auf der anderen Seite hatte es die Propaganda verstanden, ein verklärtes Bild von dieser Truppe als Elite zu zeichnen. Besser sein Sohn würde gut ausgebildet und ausgerüstet sein wenn es losging. Er selbst hatte vor Verdun monatelang in den Gräben gelegen und der Stellungskrieg verwandelte die Gegend in eine apokalyptische Landschaft. Das Grauen der Nahkämpfe, Mann gegen Mann mit Bajonett, Messer oder Spaten versuchte er zu verdrängen. Mit niemandem hatte er nach dem Krieg darüber gesprochen und wenn seine Narbe im Rücken schmerzte wurde er immer wieder daran erinnert, dass ein Franzose ihn fast mit dem Bajonett durchbohrt hätte, einer seiner Kameraden erschoss ihn mit einem Revolver kurz bevor er den Stoß richtig führen konnte. Die Verwundung war leicht und er blieb bei seiner Kompanie, jeder Mann zählte, tägliche fielen Dutzende. Als Deutschland kapitulierte empfand er tiefe Schmach, vier Jahre stand er im Feld und diente seinem Land, zuletzt als Oberleutnant. Er fühlte sich um diese Zeit betrogen und machte die Soldatenräte dafür verantwortlich, die der Front in den Rücken fielen. Entwurzelt schloss er sich dem Freikorps an und seine Mission war, die Bolschewiken im eigenen Land zu bekämpfen, späte Rache für die Niederlage auf dem Feld. In einer der häufigen Schießereien mit den Roten traf ihn eine Kugel in das linke Knie, nach der Operation blieb es steif, seitdem bewegte er sich nur noch hinkend. Seine Kameraden ermöglichten ihm die Arbeit im Büro einer Textilfabrik, als Bürovorsteher thronte er auf einem Podest vor den an Schreibmaschinen sitzenden Frauen. Männer waren knapp, zwei Millionen kamen von den Schlachtfeldern nicht wieder, er sah recht ordentlich aus und seine Manieren besserten sich nach und nach, er kam langsam wieder im Leben an. Dennoch konnte er die gewohnte Disziplin und Ordnung nicht ablegen und wenn er sprach geschah dies immer noch im Befehlston.
Zunächst rein aus der Überlegung, zu zweit vielleicht besser durch die unsicheren Zeiten zu kommen, interessierte er sich vorsichtig für die jungen Frauen. Eine sprach ihn mit ihrem Aussehen an, sie war klein, schlank, ihre Strumpfhose betonte schöne Beine und die Bluse war ordentlich gefüllt. Wie zufällig war er jetzt öfter an ihrem Arbeitsplatz und schaute ihr über die Schulter. Er wusste, dass ihr Mann in Belgien gefallen war, sie war Mitte Zwanzig und lebte allein in einer winzigen Wohnung. Häufig war sie die letzte der Frauen im Büro, er ahnte, dass sie damit der Einsamkeit zu Hause entgehen wollte, ihm ging es ähnlich, denn allein in einem Restaurant zu sitzen war seine Sache auch nicht. Obwohl er ein mutiger Mann war brauchte er mehrere Wochen bis er sie fragte ob sie mit ihm Abendessen gehen wollte, es wäre eine Einladung. Ihr Gesicht drückte Erstaunen aus aber sie stimmte zu und zwei Tage später saßen sie in einem gemütlichen Lokal zusammen. Überrascht stellte er fest, dass sie gemeinsame Vorlieben etwa für Musik hatten, er brachte sie nach Hause und beschwingt erreichte er seine Wohnung. Nach all den dunklen Jahren spürte er wieder Optimismus aufkommen und musste sich eingestehen, dass er sich lange nicht mehr so gut gefühlt hatte. Sein Verdienst war nicht schlecht und es wurde zur Gewohnheit, wöchentlich einen Abend zusammen zu verbringen, als er sie eines Tages vor ihrem Haus küssen wollte wehrte sie sich nicht.
„Danke, das war ein schöner Abend mit dir“ sagte sie ihm und er registrierte verblüfft wie selbstverständlich sie zum „du“ übergegangen war. Nach zwei weiteren Wochen kam sie das erste Mal mit in seine Wohnung. Im Krieg war er ein paar Mal im Bordell gewesen, es war reine Triebabfuhr, ansonsten widerte ihn die ganze Atmosphäre an und danach fühlte er sich irgendwie schmutzig. Beide waren ausgehungert nach Zärtlichkeit und in dieser Nacht schliefen sie das erste Mal miteinander. Entgegen seiner scheinbar groben Art war er sehr behutsam und ihre Lustschreie zeigten ihm, dass er sie gut befriedigt hatte. Er war wieder einen Schritt im Leben vorangekommen, er konnte noch ehrlich lieben.
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