„Wann ist Vater gegangen?“
„Kurz vor Melissa. Die Versammlung wurde sehr früh angesetzt. Es
muss sich um etwas sehr wichtiges handeln. Ich habe es in all den
Jahren noch nicht erlebt, dass Ser Vanellus schon kurz nach
Sonnenaufgang das Haus verlassen hat.“
Dieser Gedanke war Cathrina auch schon gekommen. Sie hatte
gehört, dass die Versammlung nicht wie sonst im alten Rathaus
am Marktplatz abgehalten wurde, wie es seit je her Brauch war,
sondern hoch oben in der Festung selbst.
Und das wiederum konnte nur eines bedeuten: Seine Majestät
höchst persönlich würde anwesend sein.
„Es ist schon sehr lange her, dass seine Majestät an einer dieser
Versammlungen teilgenommen hatte.“, dachte Cathrina laut nach.
„Ja ich weiß, mein Kind, das Gleiche ging mir auch im Kopf herum,
als ich davon erfuhr. Es heißt, er sei viel zu schwach, um sich mit
derlei Nichtigkeiten zu befassen …“
Mharen stellte einen Becher frischer Milch vor Cathrina ab und
setzte sich dann zu ihr: „Habt Ihr ihn je zu Gesicht bekommen?“,
fragte sie fast schüchtern, doch Cathrina schüttelte den Kopf.
„Nur ein einziges Mal, als er gekrönt wurde. Also vor vier Jahren.
Aber da sah ich ihn nur von weitem, als er auf einem der Balkone
von Cor Antallin stand und der Menge zujubelte.“
„Ja richtig. Stimmt, an diesen Tag kann ich mich noch erinnern.“
Sie schwiegen beide einen kurzen Augenblick und hingen ihren
Gedanken nach.
„Wie schrecklich muss es für einen so jungen Menschen sein, einer
einfachen Krankheit so machtlos gegenüber zu stehen?“, meinte sie
unvermittelt.
„Ich weiß nicht, ob man diese Krankheit einfach nennen kann.
Gerüchten zufolge starben seine Eltern an ebendieser Krankheit …“
„Und sie wird seither der Eberlin-Fluch genannt. Ich weiß, ich
weiß!“
Mharen stand auf: „Nun muss ich mich aber sputen, es gibt noch
soviel zu tun. Ser Vanellus wird sicher Hunger haben, wenn er nach
Hause kommt. Der Himmel weiß, wie lange diese Versammlung
dauern wird. Also, wenn Ihr mir nicht helfen wollt, schert Euch
gefälligst aus der Küche und steht nicht im Weg herum!“
Das ließ sich Cathrina nicht zweimal sagen. Hastig stürzte sie die
Milch herunter und ergriff blitzschnell die Flucht.
Solche Tage waren ungewohnt für sie. Sie konnte sich nicht daran
erinnern, wann sie je soviel Zeit übrig gehabt hätte, dass sie nichts
mit sich anzufangen wusste.
Also nahm sie sich einen Apfel aus der Obstschale, die im
Wohnzimmer stand und machte sich auf den Weg zu den Ställen.
Die Sonnen standen bereits hoch am Himmel und obwohl noch
nicht einmal Mittag, war es schon jetzt angenehm warm. Es war
kurz vor Herbstanfang. Oft war der Herbst schöner, als der
Sommer. Cathrina war es einerlei. Sie konnte jedem Wetter etwas
abgewinnen. Zwar war die Patrouille bei schönem Wetter weitaus
angenehmer, aber der Wald roch bei Regen so einzigartig gut. Im
Winter, wenn sie das Glück hatte, ganz früh durch den Wald zu
reiten, war der Schnee meist noch unberührt. Und wenn dann die
Sonnen aufgingen, glitzerte der Schnee einzigartig.
Sie betrat den Stall, konnte aber Benedictus, den Stallburschen
nirgends entdecken. Darum ging sie auf die letzte Box zu, nicht
ohne im Vorbeigehen Leelus Stute Nephina über die samtweiche
Nase zu kraulen. Sie bedauerte, nur einen Apfel mitgenommen zu
haben.
Alcantara war nicht in ihrer Box, womöglich hatte Benedictus
einen Ausritt mit ihr gemacht. Er kümmerte sich um die Pferde, als
wären es seine eigenen. Cathrina hatte diese Eigenschaft schon
immer sehr an ihm geschätzt. Sie ging weiter in den Stall hinein,
bis sie am Ende angelangt war. Das Licht war hier gedämpft, doch
ihre Augen hatten sich längst an dieses Zwielicht gewöhnt. Pollux
wieherte ungeduldig. Er wartete darauf, dass seine Herrin ihn
endlich nach draußen brachte, um mit ihm auf Patrouille zu
gehen. Er hatte nicht sonderlich viel Verständnis dafür, dass man
Cathrina so etwas wie einen freien Tag überließ. Er wollte lediglich
hinaus und laufen, soweit ihn seine kraftvollen Beine trugen.
Und außerdem hatte er den Apfel in ihrer Hand bemerkt.
Auch wenn Cathrina seine Absichten durchschaute, ließ sie ihn
nicht so einfach davonkommen und ließ ihn noch etwas länger
zappeln.
Pollux war ein wunderschöner, rötlich brauner Fuchs. Man könnte
nicht gerade behaupten, dass er sonderlich gut erzogen wäre,
manch einer würde behaupten, dass er gar kein Benehmen besaß
und er liebte es, seiner Herrin auf der Nase herumzutanzen und sie
mit seinem schrecklichen Verhalten zur Weißglut zu bringen.
Doch Cathrina sah es ihm nach. Er war noch sehr jung und somit
wild und ungestüm. Und sie hatte schon mehr als einmal feststellen
müssen, dass sie, wenn es wirklich einmal ernst wurde, sich voll
und ganz auf ihn verlassen konnte.
Doch Pollux war voller Energie und die fünf, sechs Stunden, die sie
mit ihm auf ihrer Patrouille verbrachte, reichten ihm bei Weitem
nicht. Und so machte er gerne mal Dummheiten.
Also öffnete sie die Tür und sobald sie diese betreten hatte, stupste
er sie herausfordernd an. Es hätte sie auch nicht überrascht, wenn
ihm ein breites Grinsen im Gesicht gestanden hätte. Sie legte ihm
das Zaumzeug an, das immer an der Wand hing, legte sich den
Sattel auf die Schulter und führte ihn nach draußen.
Schon bald war Pollux bereit für einen Ausritt. Sie schwang sich auf
seinen Rücken, nicht ohne ein paar ungeduldige Schritte
seinerseits. Sie konnte förmlich spüren, wie er darauf brannte
loszupreschen. Also gab sie ihm die Sporen und der junge Hengst
stürmte davon.
Es tat gut, den Wind im Gesicht zu spüren. Es war ein ganz
anderes Gefühl von Freiheit. Es dauerte nicht lange, da hatten sie
das Ende der Weide erreicht und Cathrina hielt geradewegs auf den
Zaun zu. Sie war sich sicher, dass Pollux ihn ohne Mühe hinter sich
lassen würde. Also lehnte sie sich nach vorne, hielt die Zügel etwas
straffer und spürte, wie sich seine Muskeln anspannten. Es war ein
wahnsinnig gutes Gefühl über den Zaun zu fliegen, dass sie sich ein
Auflachen nicht verkneifen konnte. Selten fühlte sie sich so
entspannt und frei, wie auf dem Rücken ihres Pferdes.
Sie konnte noch aus dem Augenwinkel Benedictus sehen, der
gerade mit Alcantara aus der entgegengesetzten Richtung kam. Sie
sah seinen verblüfften Gesichtsausdruck, als sie auch schon im
mörderischen Tempo an ihm vorbeiritt.
Cathrina vergaß die Zeit und bis sie wieder auf den Stall zuhielt
war Pollux bereits schweißgebadet und einige Stunden waren
vergangen.
Mharen würde einen Tobsuchtsanfall bekommen, weil sie das
Mittagessen verpasst hatte. Darum beeilte sie sich jetzt. Langsam
stieg sie vom Pferd, als auch schon Benedictus auf sie zu kam.
„Miss DuPuis, meine Mutter schickt nach Euch.“ Wie sie gedacht
hatte: „Wie sauer war sie denn?“
Benedictus hielt seinen Blick gesenkt: „Ähm … Sie brüllte etwas von
wegen: ‚zu ihrer Zeit hätte der, welcher zu spät kam, Pech gehabt
und hätte ohne etwas im Magen auskommen müssen. Aber die
Jugend von heute würde einfach viel zu sehr verhätschelt’. So
etwas in der Art.“
„Oh … Also sehr sauer. Benedictus würde es dir etwas ausmachen,
dich um Pollux zu kümmern?“ Benedictus schoss durch den Kopf,
dass dies ohnehin seine Aufgabe sei, doch er wusste, dass sich die
Читать дальше