1 ...7 8 9 11 12 13 ...18 Um der Mittagshitze auszuweichen, begannen sie samstags frühmorgens. Alwin nahm das Spritzen auf sich, um den drohenden Pilzbefall zu bekämpften. Er setzte sich eine Maske auf und eilte mit dem lärmenden Gerät durch die Reihen. Anschließend gesellte er sich zum Opa. Seite an Seite schnitten sie den Reben ab was zu viel war, damit, laut Opa, der Saft nicht in die Blätter, sondern in die Trauben ging. Sie redeten über Rudolf Heß. Der ehemalige Hitler-Stellvertreter hatte als letzter Kriegsverbrecher in Berlin-Spandau gesessen, und sich am 17. August das Leben genommen.
„Wieso wurde der damals nicht hingerichtet?“ wunderte sich Alwin. „Als Hitler-Stellvertreter muss er doch ein hohes Tier gewesen sein und somit auch ein großer Verbrecher.“
Der Opa musste lachen. „Dieser Heß war, wenn ich mich richtig erinnere, mit geistiger Kraft nicht besonders gesegnet. Der hatte zwar alles gemacht was Hitler wollte, dabei aber keinen Durchblick.“
„Der soll fünf Mal versucht haben sich das Leben zu nehmen, kam im Radio. Weshalb lässt man so einen nicht frei?“
Der alte Soldat bemühte eine Weile sein Gedächtnis. „Die Russen wollten das nicht. Der Heß war schon eine tragische Person. Der ist 1941 mit dem Fallschirm über Schottland abgesprungen, weil er mit Churchill über den Frieden verhandeln wollte. Hitler wusste nichts davon und Churchill nahm Heß nicht für voll, woran er gut tat, und ließ ihn einsperren.“
Alwin unterbrach das Schneiden. „Dann saß der seit 1941 im Knast? Sechsundvierzig Jahre lang? Da würden sich wohl noch ganz andere umbringen.“
„Meiner Meinung nach war der zu seltsam, um ihn auf die Menschheit loszulassen. Es war auch zu befürchten, dass Neo-Nazis ihn benutzen würden.“
„Dann hätten seltsame Typen zusammengefunden.“
Sie arbeiteten weiter. Beim Schneiden der Reben konnte man seinen Gedanken nachhängen, schlafwandlerisch wurden die nötigen Handgriffe ausgeführt, unbemerkt entrückte man der Welt.
Alwin wurde vom Opa aus seinen Überlegungen gerissen. „Was hast du gesagt?“
„Rolf hat immer Miete gezahlt, auch für dich. Das Geld fehlt mir jetzt, ohne Mieteinnahmen kann ich meinen Hobbys nicht nachgehen“, grummelte Opa.
„Ich habe gedacht, die Reben bringen dir Geld.“
„Aber mit jeder Kreuzfahrt ist es wieder weg.“ Opa gönnte sich alle zwei Jahre eine luxuriöse Kreuzfahrt, während der Alwin oder sein Vater die Hühner versorgten. „Ich würde meinen Lebensstandard gerne halten, deshalb darf das Haus nicht zur Hälfte leer stehen. Wir beide werden uns nun im Erdgeschoss konzentrieren.“ Opa wartete, ob sein Enkel schnallte, was Sache war.
Nach nicht mal einer Minute fiel bei Al der Groschen. „Du musst nicht glauben, dass ich bei dir umsonst wohnen will. Wenn wir uns in Zukunft aus dem gleichen Kühlschrank ernähren, zahle ich selbstverständlich auch Essensgeld. Aber wenn du zu viel Miete verlangst, werde ich mich anderweitig umsehen.“
Opa kicherte. „Ich will dich ja nicht verprellen, ich brauche dich noch für die Hühner. Ich habe so an hundert Mark gedacht. Für das Essen wird es aber doppelt so viel.“
Der Enkel überlegte, wie fair das Angebot war. Essen und Trinken musste er auch in einer anderen Wohnung. Dann fielen ihm noch Wasser-, Strom-, Heiz- und Telefonkosten ein und schon kamen ihm hundert Mark wenig vor. Für das Geld würde er nie ein Zimmer bekommen. Und er konnte Opas Küche, Wohnzimmer und die große Dusche mitbenutzen. Außerdem wusste er, was er an Opa hatte, eine neue Wohnung könnte in komplizierter Nachbarschaft liegen.
„Futtere ich tatsächlich so viel?“
„Ja und die Getränke? Toilettenpapier, Shampoo, Seife und anderes Kleinzeug? Hast du überhaupt Handtücher?“ fügte der Vermieter belustigt hinzu.
„Ich werde schauen, was ich oben zusammenkratzen kann, um die Miete zu drücken“, lachte Alwin.
„Machen wir‘s so: Du gibst mir monatlich hundert Mark und kaufst dir dein Essen selber, Eier sind umsonst. Wenn du oben ausräumst, erlasse ich dir die ersten hundert. Danach vermiete ich.“
„Das habe ich befürchtet. Nimm aber keine jungen Mieter, die hören laute Musik und feiern Partys. Und keine Familie mit Kinder, die hopsen nur auf uns herum und streiten miteinander“, empfahl der Enkel.
„Als Mieter hätte ich gerne junge Frauen, schön schlanke, die nett anzuschauen sind. Da würde ich richtig häuslich werden.“
„Opa“, rief Al entrüstet. „Du bist fünfundsechzig. Junge Frauen gehen dich nichts mehr an.“
„Was weißt du schon vom Verlangen alter Männer. Jung und schön, bleibt auch für Alte jung und schön.“
Alwin unterbrach die Arbeit und fasste seinen Opa fest ins Auge. „Das heißt, wenn du eine nette junge Frau als Freundin bekommen könntest, würdest du sie nehmen?“
„Wenn ich eine junge Frau in die Hände bekäme, würde ich sie mir ganz genau von oben bis unten anschauen und betasten, und sie dann wegschicken. So Eine will doch höchstens mein Geld. Außerdem hätte ich keine Lust, nochmals den ganzen Jugendkäse mitzumachen. Welt entdecken und alles Mögliche ausprobieren liegen hinter mir.“
„Du kannst diesmal Haschisch dazu rauchen“, kicherte Alwin, „dann macht es dir bestimmt wieder Spaß.“
Sonntagabend fuhr Alwin mit Schratt und Tiger auf eine Burgruine, um den Sonnenuntergang zu genießen. Al‘s Motorrad war nun mit Packtaschen ausgerüstet, die dringend erforderlich waren, weil er Six-Packs transportieren musste. Die drei suchten nicht nur Romantik. Häufig suchten sie auch Kontakt zu einer Szene, in der es oft rau zuging: die schon erwähnten Motorradtreffen. Das sogenannte Rockermilieu schien ein Schizophrenes zu sein. Einerseits wurde gedealt was das Zeug hielt, mit allerlei versteckten Waffen herumgefahren und in Faustkämpfen die eigene Kutte verteidigt. Wenn ein anderer Club in die Quere kam, wurde dieser überfallen. Manche Clubs versuchten sich sogar in Zuhälterei, Erpressung und Raub.
Andererseits halfen die Kerle alten Leuten über die Straße und ihren Mitmenschen wo es nötig war. In den Clubs waren auffällig viele Taubstumme und Contergan-Opfer. Letztere konnten sich mit ihren verkümmerten Armen nicht mal am Motorrad festhalten. Für Rocker galt, was für alle Menschen galt: wenn sie anständig und sachlich angesprochen wurden, gab es auch keinen Ärger. Solange sie nüchtern waren. Betrunken und unter Drogen fühlten sich viele sofort bedroht, wenn sie etwas nicht verstanden.
Alwin beendete das Wochenende entspannt auf der Ruine, nahm die leeren Flaschen, die Tiger in die Landschaft katapultieren wollte, sogar mit, war zuhause aber zu faul, sein Bike über Nacht in den Schopf zu stellen. Am nächsten Morgen waren beide Reifen platt. Weil in Beiden die Luft fehlte, nahm er an, dass jemand ihm einen Streich gespielt hat. Bei einem Plattfuß hätte er einen Nagel im Profil vermutet. Er suchte Opas Pumpe, fand sie nicht gleich, bekam dann die Reifen nicht voll, musste noch zur Tankstelle und kam zu spät zur Arbeit. Ein richtig doofer Montagmorgen wie man ihn nicht mochte.
Zwei Wochen später, der Vorfall war fast vergessen, kam Alwin aus dem Handelshof, wo er „Kühlschrankfüllmaterial“ gekauft hatte. Seine Maschine wollte und wollte nicht anspringen und gab auch unbekannte, befremdliche Töne von sich. Alwin war nicht gerade der begnadete Zweiradmechaniker. Aber bei der Durchsicht seiner Kawa fielen ihm doch ziemlich bald zwei lose Kabel auf. Schließlich erblickte er seine Zündkerzen und erkannte, dass die Zündkerzenstecker fehlten. Die waren eindeutig geklaut. Er konnte nicht nachhause fahren, das Gefrorene drohte aufzutauen. Zufällig fuhr ein anderer, unbekannter Motorradfahrer auf den Parkplatz. Alwin ging zu ihm und fragte auf gut Glück, ob er zufällig zwei Stecker übrig hätte. Der korpulente Mann fühlte sich veräppelt, besah sich dann aber doch den Schaden.
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