1 ...6 7 8 10 11 12 ...22 Es kam Gerrit wie eine Ewigkeit vor, bis der Anwalt die Personalien überprüft und alle einleitenden Floskeln und Erläuterungen hinter sich gebracht hatte, deren Sinn und Unsinn Gerrit nicht mitbekam, weil ihm das juristische Wortgeklingel nicht sonderlich interessierte.
„Möchten die Herren einen Tee oder einen Kaffee, bevor wir zum eigentlichen Vertragswerk kommen?“ Nein, da war sich Gerrit sicher, er wollte jetzt nicht noch durch eine Kaffeepause die Spannung steigern, er wollte jetzt auf der Stelle wissen, was Sache war.
Der Anwalt saß hinter seinem Schreibtisch – so ein typisches schweres Ding, das sagen soll: nimm mich wichtig! – und trug professionell-unbeteiligt den Vertragstext vor, von dem Gerrit ahnte, dass er ihm ein reiches Einkommen sichern könnte, obwohl ihm einige Wendungen recht dunkel blieben. Das Englisch dieser Juristen war nicht sein Fall, deshalb war er froh, als der Anwalt ihm die Kernpunkte nochmals in einfachen Worten darlegte: Viktoria wollte ihm ihr Vermögen übertragen, ihm ihr Haus mit allen Büchern vermachen. Zwei Jahre lang dürfe er in ihrem Haus wohnen, außerdem werde sie ihm monatlich ein Professorengehalt auf sein Konto überweisen.
Langsam, überlegte Gerrit. Wieso wollte sie ihm Geld überweisen und wieso sollte er nur zwei Jahre in dem Haus wohnen? Wenn ihm Haus und Vermögen übertragen würden, dann bräuchte er doch kein Professorengehalt mehr. Und wollte die Tante nach zwei Jahren wieder zurück in ihr Haus ziehen?
„Wieso erhalte ich das Wohnrecht nur auf zwei Jahre?“, fragte er.
„Das kann man so nicht sagen“, meinte der Anwalt, „Sie müssen den Vorgang als Ganzes betrachten.“
Gerrit fiel es schwer, ruhig zu bleiben. Den Vorgang als Ganzes betrachten, was war das wieder für eine blöde Floskel?
Der Anwalt blieb gelassen. Er erklärte Gerrit Stück für Stück, was sich Viktoria ausgedacht hatte. Da er nach Gerrits erster Zwischenfrage offenbar annahm, der vor ihm sitzende Deutsche sei entweder ein wenig beschränkt oder verstehe so gut wie kein Englisch, schaute er Gerrit nach jedem Satz an und fuhr erst fort, wenn dieser durch ein leichtes Kopfnicken bestätigt hatte, dass er folgen konnte.
Was man alles über sich ergehen lassen muss, ärgerte sich Gerrit. Alles wegen dieser blöden Tante!
Es stellte sich heraus, dass Viktoria die Übertragung ihres Vermögens an ein paar Bedingungen geknüpft hatte, Bedingungen, die Gerrit sprachlos machten: Erstens sollte er innerhalb dieser beiden Jahre heiraten. Zweitens sollte er die Bücher der Tante ordnen, und zwar alphabetisch. Und drittens einen Roman schreiben, „einen Roman in meinem Sinne“, auch das innerhalb von zwei Jahren.
Was soll das, fragte sich Gerrit, ist das wieder eine ihrer Überspanntheiten? Eines ihrer Spiele, mit denen sie ihn in seiner Kindheit gequält hatte? Nein, das war kein Spiel, das war ein tiefer Eingriff in sein Leben. Der Versuch, über sein Schicksal zu bestimmen.
Gerrit wollte schon aufstehen und rufen: „Halt, das reicht! Das ist nichts für mich! So geldgierig bin ich nicht, dass ich mich für ein Stück Reichtum verkaufe!“ Und warum? Wegen ihrem „Vermögen“. Dieses Haus, gut, das war einiges wert, aber sonst? Gerrit musste sich eingestehen, dass er keine Ahnung hatte, von welchen Beträgen da die Rede war. Ging es um Millionen oder um zwei Sparbücher? Den Anwalt zu fragen, traute er sich nicht.
Bücher ordnen, das mochte noch hingehen. Woher kannte er diese Aufgabe? Natürlich, der junge Otto Rank wurde in den hehren Kreis der Psychoanalytiker aufgenommen, nachdem er die Bücher in Freuds Bibliothek geordnet hatte. In welchen hehren Kreis würde er aufgenommen werden? Den der Autoren? Einen Roman schreiben, auch das müsste hinzukriegen sein, überlegte er.
Die Forderung, er solle heiraten, schien ihm eine ungeheure Dreistigkeit von Viktoria zu sein, schließlich war er verheiratet. Jedenfalls noch verheiratet, ging ihm durch den Kopf, aber er wischte den Gedanken bei Seite. An das Maria-Problem wollte er jetzt nicht denken.
Ihn in eine Ehe zwingen zu wollen – typisch Viktoria! Sie hatte ihn bereits auf der gemeinsamen Reise bedrängt, sich so schnell wie möglich von „dieser Maria“ zu trennen. Diese Frau sei sein Untergang, hatte sie mit erschreckender Sturheit versichert. Und weil er nicht darauf eingegangen war, will sie ihr Ziel jetzt auf diesem Wege erreichen, ging Gerrit durch den Kopf. So ein antiquiert autoritäres Miststück! Die Weiber sind erst zufrieden, wenn der Mann sich unter die Fittiche von genau der Partnerin begibt, die sie für ihn erwählt haben. Und heiraten, „sich einlassen“ nennen sie es schief lächelnd, das muss sein. So funktioniert das bei der weiblichen Mafia, ereiferte er sich, die erpressen keine Schutzgelder, sondern bedingungslose Unterwerfung unter ihre Pläne …
Gerrit geriet ins Sinnieren. Der Anwalt räusperte sich, wohl um klar zu machen, dass er irgendeine Äußerung erwartete. Mehr als ein „Gut“ brachte Gerrit nicht heraus. Er erhob sich, am liebsten wäre er ohne etwas zu sagen nach draußen marschiert. Als er schon an der Tür war, fiel ihm ein, dass er eine entscheidende Frage vergessen hatte. Was war mit Viktoria?
Er dreht sich noch einmal herum und sagte: „Hat ihnen Viktoria persönlich den Auftrag gegeben, mich zu ihnen zu beordern? Wissen sie, wo sie sich aufhält?“
„Ich verstehe ihre Frage“, antwortete der Anwalt ohne eine Miene zu verziehen, „und ich würde ihnen gerne weiter helfen. Aber ihre Tante hat mich zu diesbezüglichen Auskünften nicht ermächtig.“
Wer Augen hat zu sehen und Ohren zu hören, der überzeuge sich, dass die Sterblichen kein Geheimnis verbergen können
Sigmund Freud
Viktorias Volvo stand nach wie vor an seinem Platz. Logisch, wer hätte ihn denn wegfahren sollen? Er ging ins Haus, wollte sich ins Bücherzimmer setzen, schritt aber unruhig auf und ab. Es dämmerte bereits. Unbegreiflich, die Zeit beim Anwalt war rasend schnell vergangen. Hätte er nicht Hunger haben müssen? Wenn Viktoria ihm etwas gekocht hätte, hätte er zugelangt, wie immer. Aber jetzt alleine in dieser Küche hantieren? Sich irgendetwas nehmen, als ob er hier zu Hause wäre? Er ging in den Garten, bemerkte, dass es bereits merklich kühler geworden war, und wusste auch im Garten nichts Besseres zu tun, als auf und ab zu gehen. Hier sollte er jetzt zu Hause sein? Für mindestens zwei Jahre. Nicht, dass er das Haus und diesen Ort nicht gemocht hätte. Das war es nicht. Eine Gruppe von Möwen flog kreischend vom Dach auf. Gerrit achtete nicht weiter darauf. Er dachte an Berlin, an seine Wohnung, in der er seit über dreißig Jahren lebte. Die Wohnung hatte ihre Nachteile, aber es war seine Wohnung, sie war ihm ans Herz gewachsen. Umzüge waren Gerrits Sache nicht. Und wenn Maria ausgezogen sein würde, hätte er endlich Platz in seiner Wohnung, könnte alles wieder nach seinem Geschmack einrichten, ruhig und ungestört arbeiten. Und hier? Ruhig und ungestört arbeiten könnte er hier auch, warum nicht? Aber trotzdem … Nein, das war nicht sein Haus. Würde er nicht bei jeder noch so kleinen Änderung bedenken müssen, ob das seiner Tante recht wäre? Sich permanent nach Viktoria richten, in vorauseilendem Gehorsam?
In diesem Haus leben, wie sollte das gehen, ganz praktisch. Sollte er an ihrem Schreibtisch arbeiten, in ihrem Bett schlafen? Was mit ihrer Kleidung machen? Schränke ausräumen und alles in Umzugskartons stopfen? Im Bad standen noch ihre Kosmetika und ihre Zahnbürste!
Wirklich? Gerrit hielt inne. Hatte er wirklich Viktorias Zahnbürste gesehen? Er ging hinein um nachzusehen. Tatsächlich: Das Bad sah nicht so aus, als ob Viktoria nur mal kurz ans Meer gegangen wäre. Die wesentlichen Toilettenartikel fehlten. Viktoria, folgerte Gerrit, muss also eine Reise vorgehabt haben.
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