Gerrit wollte aufstehen, sich das Haus genauer ansehen, vielleicht schon ein paar Blicke auf die Bücher werfen. Aber zu seinem Ärger blieben seine Gedanken an Rebecca hängen. Rebecca am Marterpfahl, dann trägt sie auch noch so ein Sado-Maso-Teil – er schüttelte den Kopf über seine Traumbilder. So ein Unsinn, dachte er, nur weil mir meine Tante eine eigenartige Schenkung macht, ist plötzlich Rebecca wieder da? Viktoria hatte Rebecca und Gerrit damals regelrecht verkuppelt. Aus heiterem Himmel hatte sie vorgeschlagen, über das Wochenende ans Meer zu fahren, „damit du meine rechte Hand kennen lernst.“ Gerrit erinnerte sich noch genau daran, wie peinlich ihm das gewesen war. Und trotzdem: Liebe auf den ersten Blick, anders konnte man das nicht nennen. Richtig charmant war er gewesen, hatte Rebecca immerfort angesehen. Wie konnte ich nur so um sie herumtanzen, seufzte er, aus einem Film, in dem der Held sich derart aufführt, wäre ich sofort herausgestürmt. Aber Viktoria hatte sich gefreut, sie hatte ihr Ziel erreicht.
Rebecca und Gerrit, „The Beauty And The Beast“, wie Gerrit, auf Widerspruch hoffend, manches Mal gesagt hatte, ein Traumpaar, das sich schon bald über die Zahl der Jacken in der Flurgarderobe und die Kalkränder auf den verchromten Armaturen im Bad gestritten hatte. Das Übliche halt, aber das war es nicht gewesen. Schlimmer war, dass Rebecca sich immer öfter bei ihm beklagt hatte, er ignoriere sie. Vielleicht hatte sie damit gemeint, dass er die Lust daran verloren hatte, mit ihr zu plaudern, dass er länger als nötig in seinem Institut geblieben war, sich schweigend hinter seinen Rechner zurückgezogen hatte. Er war zunehmend passiver geworden, auch im Bett. Eine eigenartige Ruhe hatte sich zwischen ihnen ausgebreitet, in den fünf – oder waren es sechs – Jahren ihres Zusammenlebens waren sie nie aufeinander losgegangen wie „The Beast And The Beast“.
Und dann hatte sie ihn verlassen, wegen eines Piloten! Eine unangenehme Geschichte, an die Gerrit nur ungern zurückdachte.
Außerdem war da dann Maria gewesen, die ihn heiraten wollte, und die dies genauso zielstrebig und schnell umgesetzt hatte wie die Produktion einer neuen Folge irgendeiner Fernsehserie an drei Drehtagen, wie sie das bei ihrer Potsdamer Filmfirma gelernt hatte. Seine Freunde und Kollegen hatten über die plötzliche Heirat den Kopf geschüttelt. Rebecca hatte er nur noch selten getroffen, und wenn, dann im Büro seiner Tante, wo sie ausgewählt zuvorkommend miteinander sprachen. „Meine rechte Hand“, pflegte Viktoria Rebecca zu nennen.
Viktoria hatte Gerrit wegen der Trennung von Rebecca regelrecht abgekanzelt. Einen „autistischen Egozentriker“ hatte sie ihn genannt, dem jegliche Fähigkeit fehle, sich in andere Menschen, gar in Frauen einzufühlen.
Du nutzt mich aus, hatte Rebecca ihm öfter vorgeworfen, einen Vorwurf, den er bereits von anderen Frauen kannte. Autist, Egozentriker, ein Mann, der die Frauen nur ausnutzt – was Frauen sich alles an Vorwürfen ausdenken, um von ihrer eigenen Schuld abzulenken!
Er ging in der Küche langsam auf und ab, nippte an seinem süßen Kräutertee, der schon relativ kühl war. Seine Gedanken kreisten um Rebecca, den seltsamen Traum und die Sache mit der Vermögensverwaltung in Liechtenstein.
Abermals schrillte das Telefon. Sein Freund Georg aus Berlin erkundigte sich, wie es ihm da am Ende der Welt so ergehe. Gerrit blieb bei einigen vagen Bemerkungen, weil er fürchtete, Georg werde ihn mit Fragen und Ratschlägen überhäufen.
Während Georg ihm den neuesten Tratsch aus der Welt ihrer gemeinsamen Berliner Bekannten auftischte, wanderte Gerrit mit dem Telefon in der Hand ins Bücherzimmer. Er genoss den Ausblick über den Garten mit seinen alten Apfelbäumen. Die Bäume müssten geschnitten werden, fiel ihm auf, während Georg ihm die letzten Wendungen der Institutspolitik darlegte, lauter Sachen, die ihm bereits so fern waren wie das arktische Eis. In der Ferne brummte ein Rasenmäher, die Wetterfahne auf dem Nachbarhaus zeigte nach Nordost, ganz hoch oben flogen ein paar Schwalben.
„Gefällt es dir nicht auf dem Lande?“, kam Georg auf das anfängliche Thema zurück.
„Doch, doch, ist mächtig idyllisch hier“, antwortete Gerrit
„Das klingt aber nicht überzeugend. Genieß das Landleben! Sei froh, dass du dazu noch jede Menge tolle Bücher im Haus hast. Das ist doch ein kleines Paradies! Fang endlich mit dem Genießen an. Sei zufrieden, entspann dich, schau dich um, was da für interessante Frauen rumlaufen. Nörgele mir bloß nicht die Ohren voll. Was soll ich denn sagen? Ich habe Ischias! Dieser Ischias, sagen mir die Psychosomatiker, ist eine Zuwendungskrankheit, ein Schrei nach Nähe, Berührungen und Liebe. Die Theorie hab ich kapiert, jetzt fehlt nur noch die Umsetzung in die Praxis. Ich weiß jedenfalls, wonach ich suche, aber du, was suchst du denn überhaupt? Weißt du, was dir fehlt?“ Danach brach sein Redeschwall ab, als ob alles gesagt sei. Da Gerrit nichts zu antworten wusste, beendeten sie ihr Gespräch.
Du siehst nur dein eigenes Rätsel, das dich traurig und glücklich macht
Erik Fosnes Hansen
Gerrit setzte sich in Viktorias Bücherzimmer an den kleinen Schreibtisch. Das milde Licht gab dem Raum etwas Abgeschlossenes, etwas von einer eigenen Welt, einer Insel.
Viktoria wünschte sich also eine wohl geordnete Bibliothek. Gut, das konnte er verstehen, schließlich liebte er genau wie sie die Ordnung vielleicht noch mehr als die Bücher. Trotzdem hätte sie sich ja auch selbst an die Arbeit machen können, Zeit genug muss sie doch gehabt haben, seitdem sie sich zur Ruhe gesetzt hatte.
Er beschloss, sofort anzufangen. Aber wie? Sollte er alle Regale und Stapel durchsuchen, ob es einen Autor mit dem Anfangsbuchstaben „Aa“ oder „Ab“ gäbe? Er versuchte sich zu erinnern, wie er früher, als es noch keine Computer gegeben hatte, das alphabetische Register zu seiner Doktorarbeit gemacht hatte. Für jeden Begriff und jede Person einen Zettel anlegen und alle Zettel mit „A“, „B“ und so weitere auf einen Haufen werfen, am Schluss erst die Zettel mit den gleichen Anfangsbuchstaben alphabetisch sortieren. So müsste es auch bei den Büchern gehen. Er fing also bei dem Regal links neben der Eingangstür mit dem obersten Regalbrett an und zog alle Bücher mit den Anfangsbuchstaben „A“ und „B“ heraus und legte sie auf je einen Stapel. Gibt es keinen Autor, nimmt man den Herausgeber. Das ging recht schnell. Gut, dass Viktoria nicht verlangt hat, dass ich einen Katalog anlege, für jedes Buch eine Karteikarte ausfülle, dachte er. Das wäre perfekt, aber so kam er rasch vorwärts. Bald schon waren die beiden Stapel so hoch, dass sie umzufallen drohten.
Daneben aber hatte sich ein anderer Stapel gebildet. Eine schöne Ausgabe von „Tausendundeine Nacht“ lag da, zwei Bände im Schuber. Autor unbekannt. Außerdem zwei Ausstellungskataloge. Kein Mensch wird „Tausendundeine Nacht“ oder diese Katalog finden, überlegte Gerrit. Wer wird schon unter dem Namen des Herausgebers suchen. Wer hat den Talmud herausgegeben? Wer die Bibel? Am Ende ist zwar alles fein alphabetisch geordnet, erkannte er, aber man findet nichts mehr. Müsste er nicht doch einen Sachkatalog anlegen, noch viel mehr Zeit und Arbeit in diese Büchersammlung investieren?
Am liebsten wäre er in den Garten geflohen, der vor ihm in der Sonne lag, um irgendetwas Praktisches zu arbeiten, etwas mit Hand und Fuß. Vielleicht auch nur die Katze vertreiben, die eben zwischen den Beerensträuchern herumschlich, als ob es dort etwas zu jagen gäbe. Ab in der Garten, warum nicht? Schließlich hatte er zwei Jahre Zeit.
Er schnitt die Sträucher etwas in Form, vorsichtig, denn er befürchtete, ein Sommerschnitt könnte den Sträuchern schaden. Dann jätete er das Unkraut in den Beeten, hackte das Gemüsebeet leicht durch und überlegte, ob es nicht geschickter sei, ordentlicher, eine Ecke für Küchenkräuter, eine andere für Gemüse einzurichten. Er begann damit, den Schnittlauch umzupflanzen, und zwar an die Stelle, wo zwischen Majoran und Zitronenmelisse fünf Mangoldpflanzen gewachsen waren, die er neben die Strauchbohnen setzen wollte.
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