Ja, überlegte er, Zeitreisender oder Nostalgiker, es ist mir gleich, wie man das nennt, aber hier habe ich die richtige Umgebung um zu schreiben, um einen Roman zu schreiben. Und keineswegs Viktorias Roman, sondern meinen eigenen, versicherte er sich mit einer plötzlichen Entschiedenheit, über die er selbst erschrak.
Nun konnte er aufstehen. Als erstes ging Gerrit die breite Buchenholztreppe hinunter in Tantes Bücherzimmer. Von der Treppe aus sah er eine der graubraun gescheckten Fasanenhennen in der Hecke verschwinden. Ein mildes Morgenlicht lag auf den Bücherregalen, ließ den Raum tiefer erscheinen, als er war. Die Bücher hocken da wie die Möwen auf dem Dachfirst, sinnierte er, sie warten darauf, von einem Leser aufgescheucht zu werden. Zum Glück blieben sie an diesem Morgen sitzen, ihr Kreischen und Umherflattern hätte ihn irritiert. So, wie sie da ruhig standen oder lagen, berührten sie ihn angenehm. Bücher lieben jeden bedingungslos, der sie berührt, aufschlägt und liest, nahm er an, sie kennen keine Angst, nur Schimmel, Feuer und den Bücherwurm fürchten sie. Wie kleine Kinder erschauern sie vor dem Keller. Wenn sie dort eingesperrt werden, wo die Mäuse und gar Ratten sie benagen, wo die Feuchtigkeit ihnen arg zusetzt, fühlen sie sich dann nicht bestraft? Als Opfer schwärzester Pädagogik? Verbannt in eine Vorhölle?
Gerrit fiel auf, dass seine Gedanken überhaupt nicht zu Tantes Büchern passten, die in diesem trockenen, hellen Raum vor sich hindösten. Ordnen sollte er diese Bücher, nicht sich Fantasien hingeben. Herumgrübeln auf nüchternen Magen, das ist mir noch nie bekommen, sagte er sich, jetzt werde ich den Wasserkocher auf die kleine Gasflamme stellen, Anis und Fenchel im richtigen Verhältnis mischen, den Honig in der angewärmten Milch auflösen, mir ein Spiegelei braten, dieses komische Weichbrot in den museumsreifen Toaster schieben und den Tag ruhig angehen lassen.
Es war ein klarer, sonniger Tag. Ostlicht erhellte die Küche. Den hohen Schrei der Seeschwalben übertönte er mit Radiomusik, Cecilia Bartoli, eine Arie aus „Orpheus und Eurydike“ von Gluck. Als der Geruch von geröstetem Brot die große Wohnküche durchzog, huschte der Schatten eines Vogelschwarms über die weißen Fliesen des Küchenbodens. Er verschwand durch die offene Tür des Bücherzimmers. Was die Vögel wohl von den Regalen und Büchern halten, sinnierte er, ob die Bücher sie einschüchtern, sie erschlagen? Er jedenfalls fühlte sich wohl in diesem Haus.
Das Telefon klingelte. Rebecca, ging ihm durch den Kopf. Er nahm das Gespräch an und wollte ihr erklären, warum sie sich keine Sorgen mehr um Viktoria machen müsse. Doch es war ein Werbeanruf. Er solle die einmalige Chance seines Lebens ergreifen, einer der Hauptgewinne stehe ihm zu, eine vielbändige Enzyklopädie, die er sofort bestellen könne, zum Vorzugspreis. Gerrit, der Enzyklopädien liebte, ertappte sich bei dem Gedanken, auf das Angebot einzugehen, aber als er sich die Pakete mit den vielen Bänden vorstellte, stöhnte er nur „Noch mehr Bücher ...“ und legte auf.
Allzu viel Lust, wieder den ganzen Tag Bücher zu ordnen, verspürte er nicht. Sollte er mit seinem Roman anfangen? Doch der Gedanke, dass er nicht so recht wusste, welche eine Art von Roman Viktoria und ihrem „Vertrauten“ genehm wäre, durchkreuzte seine morgendliche Hochstimmung. Warum konnte ihm Viktoria nicht klipp und klar sagen, was sie erwartete? Wieso dieses Theater mit dem Oberkorrekten? Ein blödes Spiel hat sich Viktoria da ausgedacht, ärgerte er sich, eine intellektuellere Version des alten Kinderspiels „Ich sehe was, was du nicht siehst“? Ihn in ein Spiel zu verwickeln, ihn, der seit Kindertagen Spiele hasste, wie sollte er das verstehen, wenn nicht als eine besondere Bosheit.
Seine Tante wusste ganz genau, wie Gerrit sich damals bei Gesellschaftsspielen im Familienkreis bis zum Jähzorn geärgert hatte. Vor allem das ach so harmlose Spiel „Schwarzer Peter“ hatte er gefürchtet, weil dem Verlierer unter höhnischem Gelächter der Mitspieler mit einem angerußten Korken die Nase geschwärzt wurde. Der Verlierer war allzu oft er gewesen, der sich zeternd und strampelnd gewehrt hatte, ohne Erfolg, da andere Familienmitglieder ihn mit jenem Sadismus, der in jeder Familie lauert, festgehalten hatten, um dem hilflos Zappelnden die Nase ordentlich mit Ruß zu beschmieren. Dazu dann noch die Ermahnung, solche impulsiven Reaktionen würden sich nicht gehören, es sei unmöglich, wie er sich mal wieder aufführe. Dafür hätte er alle, die ihn da mit strengem Blick ansahen, erwürgen oder aufschlitzen können, auch die Tante, aber dergleichen gehörte sich nicht, natürlich nicht, er wollte schließlich ein liebes Kind sein. Das liebe Kind jedoch, das wusste er noch genau, hatte seinen Zorn ins Gehege der Fantasie verbannt, in ein Gehege voller bizarrer Bilder: Rußige heiße Korken, die den anderen in Mund und Nase, in die Ohren, sogar die Augen gedrückt wurden, Eimer voll mit feuchtem Ruß, der mit Schwämmen über den ganzen Körper geschmiert wurde, auch an Stellen, an die man eigentlich gar nicht denken durfte.
Bei diesem Spiel jetzt, überlegte Gerrit, habe ich einen Vorteil, dieses Spiel wird auf dem Feld der Literatur ausgetragen, auf meinem Feld. Deswegen, das schwor er sich, würde er dieses Mal gewinnen. Das Problem war nur, dass er nirgends nachschlagen konnte, welche Regeln dieses Spiel hatte. Die Regeln, darüber machte er sich keine Illusionen, musste er selbst herausfinden. Klar war nur: Wenn er nicht mitspielt, wird er verlieren, das Vermögen der Tante wäre weg. Gerrit, der Verlierer, Gerrit, der Versager. Nein, diesmal wollte er gewinnen, auch wenn es ihn zunehmend wurmte, dass er sich Viktorias Regeln zu unterwerfen hatte. Die Tante austricksen, indem ich mein eigenes Spiel spiele, das wäre es, ging ihm durch den Kopf. Aber er hatte nicht den geringsten Schimmer, wie das gehen sollte.
Book lovers never go to bed alone
Autoaufkleber
Dass der kleine Schreibtisch im Bücherzimmer eine Schublade hatte, war Gerrit noch gar nicht aufgefallen. Was mag da drin sein, überlegte er und öffnete mit Mühe Schublade, die etwas klemmte, da sie sich offenbar verzogen hatte. Ein Block mit Schreibpapier, sonst nichts. Alle Blätter waren leer. Ist ja auch nicht so wichtig, überlegte Gerrit. Warum sollte er den Detektiv spielen? Sollte seine Tante sich doch melden, wenn sie Kontakt zu ihm aufnehmen wollte, schließlich war sie verreist, ohne jemand Bescheid zu sagen, nicht er. In dem Moment wurde die Schiffsglocke geläutet. Ihr Klang hatte etwas vorsichtig Zurückhaltendes, als ob der Läutende einen lauten, die Stille störenden Ton verhindern wollte, als ob er davor zurückschreckte, sich bemerkbar zu machen, in etwas einzudringen, das seine Welt nicht ist. So könnte Alice aus dem Wunderland läuten, meinte Gerrit. Er lauschte noch etwas dem verhallenden Ton nach, bevor er öffnete.
An der Tür stand kein Mädchen, sondern eine Frau, von der Gerrit zuerst nur blondes Haar sah, viel blondes Haar. Haare wie ein Weizenfeld in der Sonne, ging Gerrit durch den Kopf, doch bevor er über seinen Vergleich noch weiter nachdenken konnte, sah er die erschrockenen Augen der Frau. Sie war doch nicht zurückgeschreckt, weil er die Tür ungewöhnlich weit geöffnet hatte?
Sie war mittelgroß, etwas rundlich, trug eine leichte weiße Bluse und einen blauen Rock. Ihr „Guten Morgen“ klang verlegen.
„Entschuldige die Störung. Ich bin Mary, deine Nachbarin.“ Sie wies mit ihrem Kopf auf das Cottage nebenan, an dem hellrosa und rote Rosen durcheinander wucherten.
„Komm rein, hast du Lust auf eine Tasse Tee? Ich bin Gerrit.“
„Ich habe schon von dir gehört.“
Gerrit fiel nicht ein, was er antworten sollte. Am liebsten hätte er gerade heraus gefragt, ob Mary etwas über Viktorias geheimnisvolle Reise wüsste. Aber einfach so fragen? Je angestrengter er darüber nachdachte, desto leerer schien ihm sein Kopf zu werden. Erst als er den Wasserkocher füllte, brachte er wenigstens eine praktische Frage heraus: „Möchtest du lieber schwarzen Tee oder einen Kräutertee?“
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