Mal sehen, sagte er sich, bei solchen Büchern findet man die entscheidenden Stellen meistens, indem man sie in seine linke Hand nimmt und mit dem Daumen seiner rechten Hand geradezu zärtlich die Seiten sich langsam aufblättern lässt. An den Stellen allgemeinen Interesses, das hatte Gerrit schon als Jugendlicher gelernt, öffnet sich ein Buch willig und gibt seinen Text preis.
Das musste er sofort ausprobieren. Werdet wie die Kinder, dachte er grinsend und begann, wie ein unbedarfter Besucher eines Buchladens zuerst nach jenem ausgelegten Buch zu greifen, dessen Umschlagsbild ihm gefiel. Von den erotischen Piratinnen-Romanen sprach ihn am meisten „Der Pirat und die Dirne“ an, ein Buch mit einer blonden Frau auf dem Titel, das er nie in Viktorias Bibliothek vermutet hätte. Und er hatte von Tantes erlesenem Geschmack geschwärmt! Oder sollte er Viktorias freien Geist bewundern? Er ließ die Seiten durch seinen Daumen verlangsamt sich selbst umblättern, konnte aber nicht vermeiden, hier und dort einen Abschnitt zu überfliegen.
Aber das Buch war offenbar ungelesen oder bestenfalls einmal überflogen worden, es gab keine besonderen Stellen preis. Gerrit war enttäuscht. Es ging um eine kluge Kurtisane und ihren Liebhaber, um eine schöne Frau und einen attraktiven Piraten, Abenteuer um eine Schatzkarte. Nach einer Weile fand er doch ein paar deftige erotische Schilderungen. Sagt mir das etwas über meine Tante, überlegte Gerrit? Aber es fiel ihm nichts ein, außer dass sein Freund Georg einmal gemeint hatte, jede Sammelleidenschaft besitze einen erotischen Aspekt, vom „Don-Giovannismus der Objekte“ hatte er gesprochen. Nein, die Geschichte mit der Schatzkarte erinnerte ihn an die Micky-Maus-Hefte. Finden nicht Tick, Trick und Track immerfort Schatzkarten? Nur so viel gevögelt wie in dieser Abenteuer-Liebe-Sex-Story wird bei Donald Ducks Neffen nicht, überlegte er grinsend.
Schatzkarten, Schatztruhen – als Kind hatte ihn dergleichen beeindruckt, die entsprechenden Jugendbücher hatte er verschlungen, ergriffen von mit Tang umrankten Schatztruhen gelesen, die stets zu schwer zu heben waren. Manchmal war der Deckel geöffnet und gab den Blick auf Goldmünzen, Perlenketten und riesige, funkelnde Edelsteine frei. Einem Erwachsenen ist klar, was es damit auf sich hat, dachte er, was anderes spiegelt sich hier als eine naive Gier, die gleiche Gier, die jeden Glücksspieler sein Geld in den Automaten werfen und den Tipper seinen Lottoschein ausfüllen lässt. Ein universales Phänomen, hatte er einmal in einer Abhandlung geschrieben, um das sich allerlei Aberglauben rankt, wie der Topf voll Gold, der am Ende des Regenbogens auf den Finder wartet, die goldgelben Blumen, die dem Wissenden den Ort der Schätze unter der Erde anzeigen, dazu diese ganze Gralssuche, all die kühnen Helden, die echten Männer, die allein dazu auserkoren waren, die Schätze zu finden und zu bergen.
Wieso interessiert sich Viktoria für Piratinnen und Piraten, überlegte er. Wohl nicht wegen der Sex-Szenen? Hatte sie eine heimliche Neigung zu Piraten, zu echten Kerlen? Doch ging es in allen fünf dieser sogenannten erotischen Romane für Frauen um weibliche Piraten, um wilde Frauen? Träumte Viktoria davon, eine Piratin zu sein? Ein Weib, das das geordnete Leben durch Wildheit ersetzt, war das der geheime Traum der wohlerzogenen Tante? Sollte er so die Hauptperson seines Romans entwerfen?
Vielleicht sollte er sich jetzt an den kleinen Damenschreibtisch setzen und einfach drauflos schreiben, völlig spontan. Aber bereits beim ersten Schritt auf den Schreibtisch zu fiel ihm ein, dass er erst seinen Freund Georg anrufen könnte, Georg würde ihm bestimmt einen Tipp geben können.
„Viktoria als Piratin, die ihre geheimen erotischen Fantasien auslebt, naja, damit liebäugele ich zur Zeit“, sagte er, „ich denke an so was wie einen altertümlichen Abenteuerroman, so ähnlich wie Erica Jongs ‚Fanny‘, im Stil des achtzehnten Jahrhunderts“.
Georg kannte „Fanny“ nicht, er konnte sich offenbar keinen Reim auf Gerrits Ideen machen, denn er fragte erstaunt: „Geheime Fantasien? Was für Fantasien soll denn deine Tante gehabt haben? Oder willst du auf diesem Weg eigene unterdrückte Sex-Fantasien loswerden? Nur zu, so was soll therapeutisch sinnvoll sein, sagt man doch so.“
Gerrit, der nicht zugeben wollte, wie unklar ihm selbst die ganze Sache war, antwortete nach einer kleinen Pause, wobei er sich wunderte, wie überzeugend seine Stimme klang: „Das Thema des Romans jedenfalls steht fest.“
„Immerhin etwas. Der erste Schritt zum Reichtum. Aber heiraten musst du doch auch noch, bevor der Geldsegen kommt. Na, hoffentlich passt die Auserwählte zu deinen Sex-Fantasien.“
Gerrit war das Thema peinlich. Nach einer kleinen Pause antwortete er:
„Noch habe ich keinen Satz zu Papier gebracht, aber ich wollte gerade los schreiben, mir juckt es in den Fingern.“
„Klar, solche Fantasien warten nicht gerne, da juckt es einen schon mal. – Nein, im Ernst, einfach drauflos zu schreiben, das wird nichts – Deine Tante als Seeräuberin, willst du meine ehrliche Meinung hören? Das klingt völlig abgehoben, eher nach schlechter Fantasy – na ja, Fantasy soll gerade „in“ sein. Aber du und Fantasy, meinst du, Fantasy ist wirklich dein Ding? Wenn du mich fragst: Lass dir das lieber noch mal in Ruhe durch den Kopf gehen. Du scheinst es plötzlich mächtig eilig zu haben, täusche ich mich, oder stehst du wirklich unter Dampf wie der feurige Elias?“
Unter Dampf? Ich? Kann sein, dachte Gerrit. Hätte er jetzt das Stichwort „Mary“ fallen lassen, hätte Georg sich bestätigt gefühlt, ein Triumph, den er ihm nicht gönnen wollte. Er brach das Telefonat ziemlich abrupt ab: „Hier passiert so viel, das muss ich dir später ausführlich erzählen. Jetzt knurrt mein Magen, ich melde mich wieder.“
Der Hunger war nicht völlig frei erfunden, tatsächlich hatte er seit dem Frühstück nichts gegessen. Zum Glück stand in der Küche noch ein Rest Spaghetti von gestern, den er sich schnell aufwärmen konnte. Zwei Eier darüber, fertig. Bei seinem einsamen Essen blätterte er in einem reich bebilderten Buch über Eisberge, konnte sich aber nicht konzentrieren.
Er ließ Teller und Besteck stehen, ging zurück zu Viktorias Büchern und setzte sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch. Draußen war es vollständig dunkel geworden, die wenigen Geräusche waren verstummt. Er fühlte sich plötzlich müde. Dieser Unfall und Marys Warnung, die Sache ließ ihn nicht los. Verglichen damit war Viktorias seltsames Faible für unmöglichen Piratinnen-Schmöker völlig harmlos, eher eine lustige Schrulle.
Gerrit starrte auf das Titelbild von „Der Pirat und die Dirne“. Die abgebildete Frau trug sozusagen ihre Berufskleidung, ein altertümliches grünlich gemustertes Korsett mit schwarzen Spitzen. Komisch, in dem Traum letztens hatte Rebecca auch so ein Mieder getragen. Stehe ich eigentlich gar nicht drauf, auf solchen Korsett-Kram, sagte er sich. Welch ein seltsamer Traum das doch gewesen war! Er starrte auf das Buch und hing seinen Gedanken nach. Piratin und Traum-Rebecca gingen ineinander über. Das Bild schien sich zu bewegen, die Frau wurde immer plastischer, endlich trat sie aus dem Buch heraus und reckte sich.
„Was für einen Quatsch sich Männer immer so zusammendenken“, sagte die Gestalt mit einer etwas heiseren, aber durchaus angenehmen Stimme zu Gerrit, „besonders Männer, die lange Zeit nicht bei einer Frau gelegen haben, die neigen zum Spekulieren. Komm, lass uns in dein warmes Bett kriechen, mir ist kalt, seit Jahren schon. Meinst du, es ist angenehm, nichts anderes anziehen zu können als diese Puff-Unterwäsche? Wir Piratinnen sind karibische Sonne gewohnt, hier frieren wir uns zu Tode“, rief sie aus und setzte sich auf Gerrits Schoß. Er spürte ihren kalten Körper, aber bevor er irgendetwas tun konnte, fingen der Schreibtisch und die Bücherregale derart an zu schwanken, dass ihm schwindlig wurde. Er sprang vom Stuhl auf, um sich irgendwo festzuhalten, Stuhl und Schreibtisch fielen mit großem Gepolter um.
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