Nach Brandon wurde es ländlich, links auf einem grünen Hügel sah er die romantischen Ruinen von Castle Rising, dann das Hinweisschild auf die Dörfer der keltischen Icener. War nicht Robin Hood ein Nachkomme dieser Icener? Er nahm sich vor, das zu Hause nachzuschlagen.
Weiter ging es durch von Hecken umgrenzte Felder, selten unterbrochen von kleineren Laubwäldern, auf die Küste zu. Was mochte nur mit Viktoria sein, überlegte Gerrit. Einfach verschwinden, untertauchen wie jemand, der Angst vor der Polizei hat, das passte so gar nicht zu seiner korrekten Tante. Wer sollte es auf sie abgesehen haben, auf eine Geologin? Natürlich, sie war im Ölgeschäft tätig, aber was hieß das schon. Und hatte sie sich nicht zur Ruhe gesetzt und sich in dieses Dorf in England zurückgezogen? Andererseits, überlegte Gerrit, war da das Büro in Berlin mit dieser Rebecca. So ganz im Ruhestand lebte seine Tante offensichtlich nicht. War sie in irgendwelche illegalen Machenschaften verstrickt? Gerrit wurde klar, dass er erschreckend wenig über seine Tante wusste. Sie hat im Auftrag von großen Öl-Firmen geologische Expertisen erstellt. Jedenfalls früher. Seitdem sie in England lebte, war sie, soweit Gerrit wusste, nicht mehr gereist. Das Geschäft mit den Expertisen war also vorbei. Aber wozu dann dieses Büro in Berlin? Gerrit überlegte hin und her aber kam nicht weiter.
Zwischen Viktorias Verschwinden und der Einladung zu diesem Anwalt gab es jedenfalls einen Zusammenhang, das stand für Gerrit fest. Ein Zufall war auszuschließen. Der Anwalt würde mehr wissen. Eine kurze Unterredung und der Spuk würde ein Ende haben.
Den letzten Teil der Fahrt führte ihn sein Navigationsgerät durch kleine Dörfer mit Häusern aus Flint und mit Bauerngärten, vorbei an alten grauen Kirchen, die von verwunschen aussehenden Friedhöfen umgeben waren, auf denen windschief ein keltisches Kreuz stand, manch eines zerbrochen, aber alle verschlungen verziert. Ab und an bot die Straße durch Einschnitte in den Hecken einen weiten Blick über die Haff-Nehrungsküste auf große weiße Dünen. Gerrit sah Segelboote im Haff liegen, die ihm von der Straße aus wie Schiffchen in der Badewanne erschienen. Und schon war er angekommen. Er rollte auf Viktorias Haus zu, parkte seinen Mietwagen neben Viktorias silbergrauem Volvo, der wie immer links neben dem Eingang stand, stellte den Motor ab und warf ein paar Blicke auf den Garten mit der großen Wiese, auf die Obstbäume und Gemüsebeete an der Mauer zum Nachbarn. Er bewunderte das rötlich braune klare Licht des beginnenden Abendrots und erinnerte sich, wie Viktoria einmal betont hatte, ihr Garten sei nicht einsehbar. Hier bin ich, hier kann ich sein, sollte das wohl heißen.
Ob Viktoria einen Gärtner hat, ging ihm durch den Kopf. Wie schafft sie es sonst, dieses große Grundstück, das ihm in seiner Verbindung von Gepflegtem mit Verwildertem ausnehmend gut gefiel, in Stand zu halten?
Als er auf das Haus zuging, die Wände aus Flint mit Ziegelsteinen und den hohen Kamin sah, den Goldregen und die tiefblaue Clematis an der rot-grauen Fassade, da hatte er das gleiche Gefühl wie bei seinen vorherigen Besuchen: In diesem Haus, in diesem kleinen Ort am Meer herrscht die gemütliche Ruhe der guten alten Zeit, hier sind die Wirren des Lebens noch nicht angekommen.
Er steckte den Schlüssel, den Rebecca ihm übergeben hatte, in Schloss. Er passte. Gut, dass man sich wenigstens bei solchen Dingen auf Rebecca verlassen kann, dachte Gerrit, denn er hätte überhaupt nicht an den Schlüssel gedacht, hätte womöglich vor der verschlossenen Tür gestanden und darauf gewartet, dass Viktoria öffnen würde. Aber da war keine Viktoria. Er trat ein. Das Licht fiel einladend durch die großen navyblau gestrichenen Fenster.
Verglichen mit seiner Berliner Altbauwohnung waren die Räume in Viktorias Haus klein. Seltsam, ging ihm durch den Kopf, jeder träumt von viel Platz, von einem Schloss, von repräsentativen Räumlichkeiten - und findet solch kleine Räume dann doch gemütlicher.
Gerrit schaute in die Küche, das Bücherzimmer, ging auch oben von Raum zu Raum. Alles war aufgeräumt, alles in bester Ordnung. Nur Viktoria fehlte. Ihm war seltsam zumute. Was sollte er in diesem Haus, das er von zwei oder drei Besuchen her kannte? Sich irgendwo hinsetzen und sich von der Reise erholen? Einen Tee trinken? Sind denn überhaupt Vorräte da, funktioniert der Strom? Er betätigte einen Lichtschalter, öffnete den Kühlschrank und ein paar Küchenschränke. Es fehlte an nichts. Milch, Butter, Joghurt, etwas Käse, eingeschweißter Schinken, Brot, Bier, eine Flasche Rotwein, Honig, Reis, Nudeln, Fertiggerichte – das würde für ein paar Tage, wenn nicht sogar für eine ganze Woche reichen.
Nach einigem Suchen fand er sogar Fencheltee. Er brühte sich sofort eine große Tasse auf. Wäre in diesem Moment die Türe aufgegangen und Viktoria eingetreten, sich entschuldigend, weil sie von ihrem Strandspaziergang zu spät zurückgekehrt sei, es hätte ihn nicht überrascht.
Ob er das ganze Haus nach Spuren durchsuchen sollte, nach irgendeinem Hinweis auf Viktorias Verbleib, fragte er sich, als er am hölzernen Esstisch saß und in seinem Tee rührte. Auf den ersten Blick sah er nichts, keinen Abschiedsbrief, keine Spuren eines Kampfes oder sonst irgendetwas Theatralisches. Er würde den Detektiv spielen müssen, das stand für ihn fest, und zwar so schnell wie möglich, schließlich war ja nicht auszuschließen, dass Viktoria in Gefahr schwebte.
Gerrit hätte am liebsten sofort angefangen, überall herumzuschnüffeln, aber es fehlte ihm die Zeit. In einer halben Stunde würde er bei diesem Anwalt antanzen müssen, pünktlich auf die Minute und korrekt gekleidet, wie sich das gehört.
Als er gerade zur Tür heraus gehen wollte, klingelte das Telefon. Rebecca erkundigte sich, ob er gut angekommen sei, ob das Haus geputzt und der Kühlschrank gefüllt sei. Gerrit bestätigte alles dankend.
Zur Anwaltskanzlei war es nicht weit. Dank der Routenbeschreibung, die ihm Rebecca wie eine besorgte Mutter mit auf den Weg gegeben hatte, fand er das Büro, das sich in einem hellgrauen zweistöckigen Steinhaus fand, sofort. Ein mattschwarzes Marmorschild mit goldenen Lettern hing unübersehbar neben der dunkelgrünen Eingangstür. Vor dem Nachbarhaus bot ein Gemüsehändler auf seinem schrägen Holzgestell unter einem Schild „local products only“ Tomaten, Kohl, Äpfel, Birnen und Kürbisse an. Schräg gegenüber wurde soeben der Fischladen geöffnet. Zwei junge Männer schütteten Eimer mit klein gehacktem Eis in die Auslage, ihr Chef dekorierte auf diesem Eisbett die Fische mit einer Andacht, als seien sie die edelsten Waren Englands.
Da er etwas zu früh erschienen war, komplimentierte ihn die Sekretärin in den recht düsteren Warteraum. Dort saß schon ein Mann in einem gestreiften Anzug, der ihn unverhohlen durch seine Goldrandbrille musterte. Viele Falten rund um die Augen, bräunliche Altersflecken auf den Händen, der geht auf die Siebzig zu, schätzte Gerrit. Was der hier wohl will? Einer, der so traditionelle Anzüge trägt, so steif auf dem altertümlichen Eichenholzstuhl sitzt, der kann nur ein Oberkorrekter sein, der wegen jedem Mist zum Anwalt rennt. Umso erstaunter war Gerrit, als der Anwalt sie beide zusammen in sein Büro bat.
Der Oberkorrekte, erfuhr Gerrit bei der förmlichen Vorstellung, sei ein Vertrauter seiner Tante. „Er spielt bei der Angelegenheit, um die es geht, eine nicht unwesentliche Rolle“, erklärte der Anwalt, der Gerrit erstaunlich jung zu sein schien. Viktorias „Vertrauter“ lächelte verbindlich in seine Richtung. Gerrit fiel es schwer, das Lächeln höflich zu erwidern. Wie ist Viktoria nur auf diesen Typen gekommen, überlegte er. Ihr Vertrauter! Er empfand diese Wahl geradezu als persönliche Beleidigung. Von seiner Tante hätte er anderes erwartet.
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