„Woher weißt du das alles mit Smeerenburg, dem Walfang und der Navigation?“, fragte Gerrit seine Tante. Er hoffte, er könne mit dieser Frage das gerade überstandene „Seeabenteuer“ aus seinem Kopf verscheuchen. Sie kaute zu Ende, nahm einen Schluck Kakao, so dass die weiße Sahne einen Schnäuzer auf ihre Oberlippe zeichnete und begann: „Aber Gerrit, meine Firma sucht doch für Konzerne nach Erdöllagerstätten in der Arktis, das müsste sich doch sogar bis in deine Studierstube herumgesprochen haben. Na ja, da interessiert man sich eben für die Geschichte des Öls. Weiß du denn nicht, mein Vater, dein Großvater Oskar, der hatte doch auch mit Öl zu tun. Erst hat er mit Kohlen gehandelt, später dazu noch zwei Tankstellen eröffnet.“
Will sie mir jetzt meinen Großvater als Ölmagnaten verkaufen, nur weil er zwei Tankstellen betrieben hat, dachte Gerrit. Aber weil er merkte, dass dieses Thema nicht so recht dazu geeignet war, die Angst wirklich wegzudrängen, sagte er nur so dahin: „Als Tankwart hat man natürlich mit Öl zu tun.“
„Aber Gerrit, anstatt ständig irgendwelche Bücher zu lesen, hättest du dich lieber öfter mit deinem Großvater unterhalten sollen. Der war ein leidenschaftlicher Spieler. Wenn wir auf den Jahrmarkt gingen, kaufte er immer Lose. Wir gewannen die verrücktesten Sachen. Ich kann mich noch an ein riesengroßes rosa Krokodil erinnern. Das war größer als ich damals.“
Bevor Gerrit fragen konnte, was ein Jahrmarkt-Krokodil mit arktischem Öl zu tun haben könnte, näherte sich der Kapitän ihrem Tisch und verbeugte sich fragend, ob er sich setzen dürfe.
„Entschuldigen Sie die Störung. Aber ich möchte mich offiziell bei ihnen für den Vorfall von vorhin entschuldigen. Wir haben alles von der Brücke aus beobachtet. Es ist mir ein Rätsel. Der Mann gehört nicht zu meiner Mannschaft. Ich weiß nicht, woher er gekommen ist, und auch nicht, wohin er verschwunden ist. Entschuldigen Sie nochmals.“ Er verbeugte sich galant lächelnd zuerst zu Viktoria, dann zu Gerrit hin. „Darf ich Sie zu einem Glas Champagner einladen?“
Gerrit war verblüfft, als seine Tante augenzwinkernd bemerkte: „Sir, das sollte Ihnen schon eine ganze Flasche wert sein.“
Man plauderte über den Tourismus in der Arktis, unterhielt sich über Eisbären und Walrosse.
„Leute wie Sie werden leicht für Umweltschützer gehalten“, gab der Kapitän zu bedenken, „und wenn es eine Gruppe von Menschen gibt, die die Inuit hassen, dann sind das die Umweltschützer. Die Walfänger“, erzählte der Kapitän in gesprächiger Champagner-Laune oder weil er Viktoria imponieren wollte, „die sie Upernaallit - das heißt „die im frühen Sommer kommen“ - genannt haben, standen den Inuit näher als die Forscher. Wissen sie, wie sie die Forscher genannt haben? Bäume-Zähler. Bäume zu zählen, das ist für einen Jäger so ungefähr das Letzte.“
„Hat nicht Inik, jener von Peary nach New York entführte Inuit, die Arktis-Forscher als wissenschaftliche Kriminelle bezeichnet?“, wandte Viktoria eifrig ein.
Jetzt packt sie wieder ihr Wissen aus, wie peinlich, ärgerte sich Gerrit, oder wird sie wie viele Frauen von Uniformen und Autorität magnetisch angezogen? Vielleicht ist das ihr schwacher Punkt?
„Ja schon, gnädige Frau“, fuhr der Kapitän fort, „aber die Forscher wurden nur belacht, mit ihnen haben die Inuit Scherze getrieben, bisweilen ziemlich grobe. Mit den Walfängern haben sie gehandelt, manche berichten auch, sie hätten Frauen gegen Waren eingetauscht. Die Inuit waren ja Jäger, genauso wie die Walfänger, das hat zu einer gewissen Verbundenheit geführt. Aber die Tierschützer, diese Tierschützer sind für die Inuit die Abkömmlinge der Leute, die ihre Gewässer ausgeplündert haben und die ihnen jetzt die Jagd verbieten, die Jagd, die für einen Eskimo doch Lebensgrundlage und Lebensinhalt ist.“
Er besann sich und hielt inne. „Aber dass es hier in Spitzbergen so sein soll wie auf Grönland, das ist eigenartig. Auf Spitzbergen leben doch gar keine Inuit.“
Er schüttelte versonnen seinen kantigen Kopf: „Das ist alles nicht so einfach hier oben. In der Arktis herrscht eine ungewöhnliche Ordnung. Was wir sehen, ist unsere Fantasie von Menschen, die wir mit dem Fernglas am anderen Ufer suchen.“
Nach diesem etwas rätselhaften Satz verbeugte er sich wiederum mit einem verbindlichen Lächeln und verschwand mit sicherem Seemannsgang.
„Wollte der Kapitän uns weiß machen, wir wären von Einheimischen angegriffen worden, weil die uns für Tierschützer gehalten haben?“, wandte sich Viktoria an Gerrit, dem das Ganze völlig rätselhaft war. „Und was ist denn mit dem Vermummten passiert? Der muss doch in das andere Schlauchboot umgestiegen sein, oder?“, gab Gerrit zu bedenken. Beide ärgerten sich, weil sie auf dem Boden des Schlauchbootes zitternd fast gar nichts gesehen hatten.
Viktoria änderte abrupt das Thema: „Zurück zu deinem Großvater. Oskar war ein Spieler, der keine Verlosung auslassen konnte. Einmal hat er einen großen Treffer gelandet: Bei der Weihnachtstombola einer Ölfirma hat er den Hauptgewinn gezogen – Anteilsscheine an einem Ölfeld. Sag mal, ist da noch ein Glas Champagner in der Flasche für mich?“
Die beiden tranken auf ihr „kleines Seeabenteuer“. Treibeis brach knirschend am Bootsrumpf. Dichter Nebel war aufgezogen, die Luft des Lichts beraubt, das Meer immer noch unruhig.
„Und deshalb konnte er eine zweite Tankstelle eröffnen?“, fragte Gerrit, dem die ganze Geschichte komisch vorkam. Sein Großvater im Ölgeschäft? Das hätte sogar er mitbekommen.
„Die gewonnenen Anteilsscheine hatten den Haken, dass Ölquellen nicht von alleine sprudeln. Er besaß zwar Anteile an den Förderrechten, aber so lange nicht gefördert wurde, nutzte ihm das wenig. Gelder für die Förderung zu besorgen, das war für Oskar einige Nummern zu groß, so viel Geld konnte er einfach nicht auftreiben. Lange Rede, kurzer Sinn: Die Anteilscheine blieben faktisch wertlos. Das hat ihn fürchterlich geärgert, keiner durfte ihn auf seine Ölquellen ansprechen, bald war das Thema Öl in der Familie tabu.“
Ach du Schreck, dachte Gerrit. Er konnte sich schon genau vorstellen, wie die Geschichte weitergehen würde, schließlich konnte man solche kleinen Familiendramen in allen möglichen schlechten Romanen lesen: Viktoria, die Lieblingstochter ihres Vaters, sieht als Kind die Schande des Vaters. Sie nimmt sich vor, die Familienehre wieder herzustellen. Sie wird Geologin, Spezialistin für Lagerstätten in der Arktis, immer auf eine Chance lauernd, doch noch an Vaters Ölquelle heranzukommen. So eine blöde Story, dachte er, aber da er ein höflicher Mensch war, nickte er seiner Tante schweigend zu.
Nach zwei ereignisarmen Seetagen erreichten sie bei strahlendem Sonnenschein den Eingang zum Scoresbysund. Über Grönlands Gletscher spannte sich ein mächtig blauer Himmel, riesige Eisberge trieben wie durchscheinende Massen weißen Carrara-Marmors mit der Strömung des Sunds dahin. Bizarre Eistrümmer von der Größe eines Wohnblocks lagen gekentert vor der Küste. Es glitzerte und funkelte. Gerrit blinzelte und merkte, wie das arktische Licht das Auge bekämpft. In der Eiswelt sieht man anders, ging ihm durch den Kopf.
Kapitel 4 Berlin - Norfolk
Mir, mir Armen war mein Büchersaal
Als Herzogtum genug
William Shakespeare
Es war ein sonniger Morgen, wie es sich für einen Geburtstag gehört. In seinem Arbeitszimmer saß Gerrit vor seinem Notizbuch und überlegte lange. Dann schrieb er mit königsblauer Tinte in fast kindlicher Schönschrift, jeder Buchstaben klar und rein, einen kleinen Satz in sein Notizbuch, der ihm fundamental erschien: „Ich bin buchbesessen.“ Er sah sich seinen Eintrag an. Ja, er war zufrieden mit diesen drei Worten. Brachten sie nicht sein bisheriges Leben auf den Punkt?
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