Es war schon eine Weile her, aber Gerrit erinnerte sich genau daran, wie er vor Jahren einmal in Dänemark auf einen Wal gestoßen war, der am Strand ein paar Tage zuvor verendet war. Er hatte nicht näher heran gehen können, so stank der verwesende Fleischberg. Durch sein Fernglas hatte er den Kadaver betrachtet, aber als der Wind dann doch eine volle Ladung Wal-Aas-Geruch in seine Richtung geweht hatte, hatte er sich übergeben müssen. Und das war nur ein einziger Wal gewesen, dazu ein recht kleines Exemplar.
Viktoria riss ihn aus seinen Gedanken und breitete ihr Wissen über Smeereburg vor ihm aus wie Geschenke auf dem Gabentisch. Als Kind hatte er diese Belehrungen gehasst, jetzt als Erwachsener fand er ihren pädagogischen Eifer eher unterhaltsam. Wenn es ihm zu viel wurde, zog er sich guten Gewissens in die Welt seiner eigenen Gedanken zurück. Zum Glück sagte sie nicht ständig das Gleiche, wie das bei alten Menschen oft der Fall ist.
„Smeerenburg war die Hauptstadt des ersten Ölbooms im siebzehnten Jahrhundert“, dozierte die Tante, während Gerrit sie sich als strenge Lehrerin mit Dutt, Kostüm und Zeigestock vorstellte, die ihn, falls er jetzt nicht aufpasse, übers Knie legen würde. „Bevor Erdöl gefördert wurde, lieferten Wale das Öl für Schmiermittel, Beleuchtung, Heizung und was nicht alles. Wie heute Männer auf die Bohrinseln gehen, um zu Geld zu kommen, gingen sie damals nach Smeerenburg, das fest in holländischer Hand war. Walfang war großes Geld und damit politischer Einfluss. Da ging es nicht zimperlich zu, naja, wie immer, wenn es um Öl geht. Aber die goldene Zeit in Smeerenburg dauerte keine fünfzig Jahre, danach war das Meer ausgebeutet, der Wal fast ausgerottet. Wie heißt es doch bei Richard Wagner? Öd und leer das Meer ...“
Hoffentlich fängt sie nicht auch noch an zu singen, auf „Tristan und Isolde“, vorgetragen von Viktoria, hatte Gerrit jetzt wirklich überhaupt keine Lust. Sie nahm glücklicherweise ihren Faden wieder auf : „ Die gleiche Geschichte wie heute: Der Verbrauch war angestiegen, die geförderte Ölmenge gesunken. Walfänger suchten neue Gebiete, die Männergesellschaft in Smeerenburg war am Ende. Außerdem setzte es sich durch, den Tran direkt auf den Schiffen zu kochen, aber das weißt du ja sicherlich schon aus „Moby Dick“, oder?“
Oder? Oder? Oder? Blöde Frage. Natürlich kannte er „Moby Dick“.
In der Pubertät hatte er „Moby Dick“ zum ersten Mal gelesen, mit Glitzeraugen, und sich vorgestellt, der Roman sei mit einer Harpune geschrieben, einer Harpune aus Walbein-Stücken. Dass ein Mann "entmastet" werden könnte, hatte er da gelesen, schauerlich!
Mächtig imponiert hatte ihm Queequeg, der Meisterharpunier mit seinen Tätowierungen. Er selbst hatte keinerlei Tätowierung. In seiner Jugend war so etwas völlig undenkbar gewesen, später hatte er sich nie entscheiden können, welche Stelle er womit verzieren wollte, und zwar für immer. Für immer! Fürchterliche Vorstellung. Dazu kam seine Angst vor den Nadelstichen. Die fehlende Tätowierung hatte ihn aber nie daran gehindert, sich auszumalen, wie er als Harpunier im Fangboot den vorderen Riemen pullt, sich ganz nah an dem Ungeheuer auf dem schwankenden Boot aufrichtet, seine Harpune ergreift, um diese mit all seiner Kraft dem riesigen Tier entgegen zu schleudern. Herrliche Träume wie dieser hatten sein Leben gewürzt. Über Bord zu gehen, das hatte allerdings nie zu seinen Fantasien gehört, selbst in seiner Einbildungskraft hatte er sich nicht derart direkt den Abgründen des Meeres aussetzen wollen.
Später war an die Stelle des wilden Queequeg der vorbildliche Seeoffizier Starbuck getreten. Starbuck und seine Moral, das war ihm vertraut, so hatte man in seiner preußisch geprägten Familie gedacht. Hat man nach diesem Steuermann die Kaffeehauskette benannt? Nach ihm, der an der Berufskrankheit der Helden litt, wie Gerrit das einmal genannt hatte, an einer Art tödlicher Besessenheit? Scott, Amundsen, Franklin und Ahab, all die Helden seiner Jugend, sind Opfer dieser Krankheit geworden, aber damals hatte er sie als Helden verehrt, die einsamen Außenseiter, die Einzelgänger der See.
Er hatte all die Bücher gelesen, in denen der Schnee waagerecht vom heulenden Sturm getrieben bei mindestens minus vierzig Grad ins Gesicht des Helden fliegt, der orientierungslos herumirrt, während die Kälte in seine Knochen beißt, sein Gesicht zerfrisst. In dieser Situation kommt die Läuterung. Irgendwie tobt in den Schlüsselszenen stets ein Schneesturm, aber das war ihm damals nicht aufgefallen, als er unter der warmen Daunendecke liegend mit den halbverhungerten Helden des Nordens mitgelitten und mit dem Walross gekämpft hatte. Ergreifend waren die Stellen gewesen, wo der Held von einem tätowierten Mädchen im Iglu unter der Bärenfelldecke beim flackernden Licht der Tranlampe gewärmt wurde. Ansonsten aber war das mit der weiblichen Welt nicht so einfach gewesen. Dass er viel über die Eroberung ferner Eiswüsten gelesen hatte, hatte ihn für die Eroberung von Frauen nicht gerade fit gemacht. Seine Welt der Schiffe und des Eises war eine Männerwelt, da kam all das irgendwie gefährliche Weibliche nicht vor. Die Welt der Männer, die ist einfach, geordnet, hatte er gedacht, Frauen bringen nur Unordnung, Störungen. Ein einsamer bärtiger Held hatte er sein wollen, wie Scott, der schrieb, bis er erfror, das graue Zelt im schauerlichen Schneesturm bebend, vor sich sein Tagebuch, der letzte Eintrag: „Ich bedaure das nur für die Frauen, die wir zurücklassen. R. Scott“.
Doch irgendwann war seine Pickelphase vorbei, die Eroberung der Eiswüsten war hinab gesunken in die tieferen Schichten seines Unbewussten. An der Oberfläche aber, da hatte sich die Suche nach Frauen durchgesetzt, die andere Schatzsuche … Hatte nicht Scott eine Frau und einen Sohn gehabt?
Mit zwanzig war Gerrit zu der Erkenntnis gekommen, dass er gerne mit Starbuck gesegelt wäre, aber nur als Passagier. Passagiere waren auf diesen Schiffen leider nicht vorgesehen. Aber jede andere Stellung, das wusste er jetzt ganz genau, als er auf einen rosa-grau-bläulich schimmernden Eisberg blickte, eine andere Stellung würde ihm wenig behagen.
Die Tante wies ihn darauf hin, man könne, wenn man genau hinsehe, ganz weit draußen schon wieder einen Wal sehen, aber Gerrit hing seinen Gedanken nach.
Nein, Walfänger war nie sein Traumberuf gewesen. Derart anrüchige Betätigungen waren in seiner Familie undenkbar, Harpunier oder Koch, schockierend, selbst Offizier oder Kapitän unakzeptabel. Je älter er wurde, desto häufiger hatte er sich vorgestellt, der Autor Herman Melville zu sein, so viel gelesen zu haben, solch ein Fachwissen zu besitzen. Dem hatte er nachgeeifert, und zwar mit einigem Erfolg, ja, mit Erfolg, wiederholte er sich. Klar, auf dem Sofa liegen und lesen, das ist doch die beste Position. Besser noch, als hier eingemummt in der Kälte zu sitzen und nach irgendwelchen Walen Ausschau zu halten? Kann nicht der Leser auf seinem Sofa alles miterleben, ohne dass seine Hände vom rauen Hanfseil bluten oder Mutproben tödlich verlaufen? In dem Roman „Moby Dick“ rückt der Wal dem Leser doch wahrlich nah genug!
Wie kommt die Tante nur darauf, er, Gerrit, kenne sich nicht bei „Moby Dick“ aus! Es waren schließlich Melvilles Romane gewesen, die ihn dazu gebracht hatten, Literatur zu studieren. Als Spezialist für Seefahrerliteratur aufgestiegen bis zum Dozenten, Vorlesungen über Seefahrerliteratur, Seminare über Piratengeschichten, einen überall gelobten Aufsatz über Fontanes Forschungen über Störtebecker, Versuch einer Habilitation über Brechts Seeräuber Jenny. Alles vergessen, Tante? Wahrscheinlich, überlegte Gerrit, denkt sie wieder nur an diese uralte Geschichte, die sie immer wieder zum Besten zu geben pflegte: Als kleines Kind war er einmal in ihrer Bibliothek gewesen, begleitet von ihrem mantraartigen „Vorsicht, bitte Vorsicht! Die guten Bücher!“ Damals hatte er mehr auf das Format der Bücher geachtet, auf die Farben des Umschlages und natürlich die Abbildungen darauf. Ein dickes Buch mit einem Walross hatte ihn sehr interessiert, vor allem aber ein Bildband mit Walen. Als die Tante gemerkt hatte, dass er lange lachend die Wale betrachtete, hatte sie erklärt: „Das ist ein Wal. Gerrit, was ist das?“ Aber bei ihm war immer nur ein Wort herausgekommen, das sich wie „Aal“ angehört hatte. Die Gesichter von Tante und Mutter waren immer näher gekommen, immer eindringlicher hatten sie ihm das Wort vorgesprochen: „Wal, Wal, Wal, mit weichem W wie Wasser: WWWaaal!“ Es hatte nicht klappen wollen, für eine Weile war es beim Aal geblieben. Die Antipathie gegen Wale hatte sich Gerrit bewahrt, aber diese Männer, deren Beruf es war, die Wale zur Strecke zu bringen, die verehrte er.
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