Kapitel 3 Grosses Seeabenteuer
Das Typische lässt kühl, nur das individuell Verstandene macht, dass wir außer uns geraten
Thomas Mann
In Smeerenburg angelandet, sah Gerrit vor allem frisch gefallenen Schnee, darunter, verschwommen, ahnte er ein paar Ruinen. Die Walfänger waren vor Jahrhunderten gegangen, aber lag nicht noch der Geruch von Ausbeutung und Gier in der Luft? Gerrit stapfte frierend und lustlos neben Viktoria durch den weichen Neuschnee. Er war ein Mensch, der sich für Schnee und Eis begeistern konnte, klar, aber hier kam er sich deplatziert vor, wie ein kleiner Junge, der einen Familienausflug grimmig überstehen muss. Trotzig trottete er durch die unzeitgemäße Winterlandschaft. Im diffus gleißenden Licht präsentierten sich ihm die Berge in ihrer entrückten Schönheit wie in einer grobkörnigen Schwarz-Weiß-Fotografie. Ihn überkam das verführerische Gefühl, hier sterben zu wollen, und tatsächlich, ganz kurz, für einen unbeaufsichtigten Moment, gab sein Geist sich auf. Vage fühlte er es …
Sie gingen bald wieder zurück. Als er am Ufer stand, lag im graublauen Licht des wolkenverhangenen arktischen Tages das grüngraue Meer vor ihm. Während er noch darüber nachsann, ob diese grüngraue Farbe nicht den Augen einer Katze ähnelte, fiel sein Blick auf das kleine Beiboot, das dort lag, um Viktoria und ihn zum Eisbrecher zurück zu bringen. Komisch, dachte er, das Schlauchboot, das uns hierher gebracht hat, hat das nicht irgendwie anders ausgesehen? Und das Mutterschiff? Das lag glücklicherweise immer noch etwa eine Seemeile vor der Küste. Es schaukelte leicht in der Dünung. Alles Quatsch, rief er sich zur Ordnung, ich habe zu viele Romane im Kopf, das ist ein schwarzes Schlauchboot mit einem starken Außenborder hinten dran, nichts Besonderes. Dieses ungewohnte Licht verändert meine Wahrnehmung, beruhigte er sich, genau, das wird es sein.
Der Bootsmann wartete, eingehüllt in seine dicke Jacke. Über den Kopf hatte er sich eine Art Sturmhaube gezogen. Mit diesem vermummten Typ sollen wir fahren? Nur wir beide, ganz allein? Na ja, dachte er, die anderen Passagiere des Eisbrechers haben klüger gehandelt, sie sind direkt an Bord geblieben, haben sich nicht von ihrer Neugier dazu verführen lassen, zu einem Ort zu fahren, an dem es eigentlich nichts zu sehen gibt.
Kaum waren sie eingestiegen, ging es los, und zwar mit ordentlichem Tempo. Der Bootsmann wollte wohl zeigen, was er und sein Außenborder alles können. Er ließ das Boot über die Eismeerwellen springen. Dann klatschte der Bug ins aufspritzende Wasser, was wie eine scharf eingestellte eiskalte Dusche im beißenden Nordwind wirkte.
„Geht es nicht etwas langsamer?!“, versuchte Viktoria den Vermummten zu zügeln. Zuerst auf Englisch, dann in strengerem Ton auf Deutsch, dann laut und energisch auf Norwegisch. Keine Reaktion.
War die schwarze Gummiwulst, auf der sie saßen, auch relativ breit, so war es in dem springenden glitschigen Schlauchboot gar nicht einfach, einen sicheren Halt zu finden. Sie duckten sich vor dem scharfen Wind, sie klammerten sich an die Seile, die seitlich an dieser Gummiwulst gespannt waren. Als eine größere Dünungswelle anrollte, zog Viktoria den vor Schreck erstarrten Gerrit im letzten Moment herunter auf den Boden des Boots. Dieses hob sich wie ein bockendes Pferd, um gleich danach ächzend und bebend auf die Wasseroberfläche zu knallen.
„Will der uns nur Angst einjagen oder uns umbringen?“, zischte die halb erfrorene Tante Gerrit zu, der nicht so recht wusste, ob er sich vor Kälte oder vor Angst kaum bewegen konnte. Es schien ihm, als würde der eiskalte nasse Wind durch ihn hindurch wehen. Als Gerrit mit Mühe kurz den Kopf hob, sah er, wie vom Mutterschiff her ein weiteres Beiboot auf sie zukam. Es tanzte auf den Wellen, flog dahin und hatte sie bald erreicht. Was jetzt geschah, bekamen sie nicht so recht mit. Sie lagen auf dem Boden des dahin schießenden Schlauchboots, die Augen gefüllt mit kaltem Salzwasser, das schmerzte wie tiefgekühlte Tränen. Die Kälte hatte ihre Kleidung und ihr Fleisch überwunden, um in die Knochen zu kriechen und den Körper von innen her erst zittern, dann erstarren zu lassen. Innerlich und äußerlich fühlten sie sich taub und nass. Vage nur bemerkten sie, dass sich der Fahrstil geändert hatte. Als es ihnen gelang, wieder aufzuschauen, war der Vermummte verschwunden, an seine Stelle war der zweite Offizier getreten, der grimmig lächelnd zu ihnen hin sah.
Endlich an Bord des Eisbrechers angelangt, murmelte ihr Retter irgendetwas wie „Asshole!“ Er schüttelte bedenklich seinen Kopf dazu. Laut sagte er: „Sie dürfen immer nur in mein Schlauchboot einsteigen, verstanden?“
Viktoria murmelte ein halbverständliches: „Aye, aye, Sir“ und schüttelte den Kopf.
„Ich hatte das Gefühl, der wollte uns umbringen“, stotterte Gerrit, der vor lauter Zittern kaum sprechen konnte. Er ärgerte sich maßlos über sich selbst. In Gefahrensituationen soll man sich aufspalten in eine handelnde und eine distanziert beobachtende Person, hatte er einst gelernt. Lächerlich, dachte er, jetzt steht die beobachtende Person schlotternd da, ohne jede Distanz. Sie schafft es kaum, sich die triefend nassen Haare aus dem Gesicht zu wischen. Nein, zum Abenteurer war er nicht geboren. Er stand vor seiner Tante und kam sich wie ein kleiner verzagter Junge vor.
„Die Arktis ist unberechenbar“, gab diese seltsam abgeklärt von sich. „Die Inuit sagen: Die Geister helfen nie den Bekümmerten und Verzagten. Das solltest du dir merken, wenn du mit mir reist.“
Gerrit hatte mehr als genug von ihren Sprüchen. Dieses Wort „Inuit“ ging ihm auch auf die Nerven. Warum sollte er nicht Eskimo sagen? Aber das gehört sich doch nicht! Wie oft hatte er das von seinen Eltern gehört, das darf man nicht, das tut man nicht. Hatte er nicht noch als junger Erwachsener gegen dieses „das gehört sich nicht“ rebelliert? Und warum? Jetzt sollte er kuschen, dieses Wort nicht benutzen, weil das angeblich ein böses Wort ist, obwohl diese Eismenschen sich zum Teil doch selbst dagegen wehren, als Inuit bezeichnet zu werden. Sein Gesicht wurde immer finsterer. Er bedauerte, nicht bei seinen Büchern geblieben zu sein.
„Komm, vergessen wir das alles. Wir duschen heiß, gehen danach in die Messe, da wird es wohl einen steifen Grog oder Ähnliches für uns geben. Ein Seeabenteuer eben ...“, mit diesen Worten zog Viktoria ihn schnell in die Kabine.
Nach dem Duschen schien Viktoria wieder die Alte zu sein, amüsiert distanziert. „Eine Kabine mit Dusche, welch ein Luxus auf solchen Schiffen heute herrscht“, wunderte sie sich, „zu meiner Zeit hatten wir zwei Duschen für das gesamte Schiff, wovon mindestens eine ständig defekt war.“ Sie musste kichern: „Und es ist wirklich fein mit dir zu reisen, du hast mir beim Duschen den Vortritt gelassen, wenigstens deine gute Erziehung ist geblieben.“
Während Gerrit sich penibel abtrocknete, danach seine Sanddorn-Hautmilch konzentriert über seinen Körper verteilte, als ob ihm das Stabilität verleihen könnte, plauderte Viktoria von der Navigation der Inuit: „Mich wundert immer wieder, wie die Inuit wie die Polynesier ohne Kompass, Sextant und Karte einen Kurs auf dem Meer sicher bestimmen. Mir hat jemand erzählt, es seien die Muster der Wellen, ihr Klang, ihre Form und Farbe sowie die Veränderungen des Himmels, die ihnen den Weg zeigen. Ich vermute, sie besitzen eine geistige Karte im Kopf, deren Mittelpunkt ihr Kajak ist. Im Grunde, wenn ich es mir recht überlege, denken sie gar nicht in Richtungen, sondern in Wirkungen, Wirkungen, die für sie wichtig sind. Vielleicht sollten auch wir so denken?“
Gerrit hörte nicht zu, was interessierte ihn die Navigation der Inuit. Er wäre jetzt lieber allein gewesen, ging aber trotzdem mit seiner Tante in die Messe, wo es Kuchen und heißen Kakao mit Rum gab.
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