Seinen fünfundvierzigsten Geburtstag wollte Gerrit mit seiner Frau Maria mit einem Abendessen in ihrer Wohnung feiern. Harmonisch, ein Stück Ehe-Idyll stellte er sich vor, wenigstens an seinem Geburtstag, das schien ihm nicht zu viel verlangt. Sie wollten gemeinsam kochen, doch Maria kam nicht.
Gerrit trug freudig das „gute“ Geschirr auf und dekorierte sorgfältig den Tisch. Das hatte er schon als Kind gerne gemacht: Besteck, Teller, Gläser und Servietten nach einem immer wieder leicht variierten Schema akkurat auszurichten. Kerzen durften nicht fehlen, klar. Er trank schon mal ein Glas Wein und putzte das Gemüse. Dann noch ein Glas Wein. Danach stellte er den Reis auf. Irgendwann kam Maria, strahlte Stress aus, sagte nicht viel. Sie tranken ein Glas gemeinsam, Maria übernahm die Zubereitung des Hühnerfrikassees, gab kurze Anweisungen und redete ansonsten nicht viel. Hatte sie beruflichen Ärger gehabt? Gerrit wusste es nicht. Er bemerkte nur, dass die Stimmung irgendwie frostig war. Ärger mit Kollegen, schlechte Laune? Woher sollte er das wissen. Er trank noch ein Glas Wein, Maria wollte nicht mittrinken. Könnte sie nicht wenigstens an seinem Geburtstag eine bessere Stimmung verbreiten? Aber sie blieb weiter wortkarg, so wortkarg, gestand Gerrit sich ein, war sie häufig, es fiel nur nicht so auf, weil sie recht wenig Zeit miteinander verbrachten.
Da ihm nichts Besseres einfiel, plauderte Gerrit von dem Arktisforscher Knud Rasmussen, der die Mythen und Sagen der Inuit gesammelt hatte, volkstümliche Erzählungen, die die Grausamkeiten der Grimm`schen Märchen bei weitem in den Schatten stellten, was er mit einigen Beispielen illustrierte. Das war beim Hühnerfrikassee auf Reis. Bei den frischen Erdbeeren mit Schlagsahne erwähnte er, dass Rasmussen nach einem Festmahl an Fleischvergiftung gestorben war. „Es war ein eingelegter Alk, so eine Art Pinguin der nördlichen Meere, den manche für eine Delikatesse halten“, erklärte Gerrit ohne in seiner Rotweinlaune zu bemerken, wie seine Frau ihn angeekelt anschaute, als ob kleine weiße Maden aus diesem Alk heraus kriechen würden. Nach einem weiteren Glas Wein kam der Ausbruch. „Ich will nicht mehr“, sagte sie, „mit deinem Gerede hast du die ganze Stimmung kaputt gemacht, ich will das Essen und den Wein genießen, aber du erzählst mir ekelhaftes Zeugs, das du irgendwo gelesen hast. Und das soll sensibel sein?“
Gerrit wollte gerade ansetzen, zu erklären, dass er das doch gar nicht so gemeint habe, da sprang sie auf, warf ihren Stuhl um und schrie: „Was siehst du überhaupt? Kriegst du denn noch irgendwas mit, was nichts mit Büchern, Eishelden und Autoren zu tun hat? Du hast die Bücher für deine Innenwelt, die Außenwelt brauchst du nur für deinen Sex! Ekelhaft bist du, völlig beschränkt, so was wie Mitgefühl und Innigkeit kennst du überhaupt nicht! Typisch Mann!“
Er stand schweigend auf und zog sich, ohne sich umzuwenden, in sein Arbeits- und Schlafzimmer zurück.
So eine dumme Kuh, ärgerte er sich, sie weiß doch ganz genau, was Bücher mir bedeuten. Woher kommt das Geld für diese große Wohnung? Weil ich mich mit Büchern beschäftige, verdammt noch mal! Gerrit war wütend. Die Sache schien ihm völlig logisch zu sein: Seine Frau war auf seine Bücher eifersüchtig, das war’s, sie wollte einen wichtigen Teil seiner Persönlichkeit nieder machen, wollte ihn völlig unter ihre Kontrolle zwingen. Nichts da, nicht mit ihm! Ich brauchte keine „feste Beziehung“! Feste Beziehung, Festung Beziehung, Festungshaft Beziehung, nein, dachte er, ich durchschaue das Theater, jetzt gilt es, klare Entscheidungen zu treffen. Er wollte kein Ehekrüppel werden! Trennung – das schien ihm die einzige klare Entscheidung zu sein. „Sie oder ich“, sagte er laut, „wenn diese Frau nicht bis morgen Mittag die Wohnung verlässt, werde ich diese Wohnung nicht mehr betreten!“ Klare Sachen wollte er machen, sich auf kein Palaver mehr einlassen, fest bleiben.
Als er sich ins Bett legte, fiel ihm der finanzielle Aspekt der ganzen Sache ein. Er versuchte zu kalkulieren, was ihm die Scheidung kosten würde, aber die Zahlen schwirrten ihm nur noch durch den Kopf. Egal, sagte er sich schließlich, hier geht es nicht ums Geld, sondern um mich.
Als Gerrit am Morgen aufwachte, war sein Zorn ein Stück weit verflogen. Bestimmt kommt sie mich wecken, hoffte er, wenn sie einsieht, wie verrückt es ist, auf meine Bücher eifersüchtig zu sein. Das wäre ein erster Schritt in die richtige Richtung. Gerrit blieb so lange im Bett liegen, wie er konnte, und wartete. Aber sie kam nicht. Er stand auf und überlegte. Wenn sie nicht einsieht, dass sie etwas gegen diese alberne Eifersucht tun muss, geht alles unselig weiter. Nein, dann hat sie eine Schlacht gewonnen. Sie wird hier ein Stück von meinem Gebiet besetzen, dann da ein Stück, dann noch eins. Er stapfte im blaugestreiften Schlafanzug zwischen Bett und Schreibtisch hin und her. Sein Forschungsjahr fiel ihm ein, nur noch knapp zwei Wochen und dann bräuchte er ein ganzes Jahr nichts zu tun als zu lesen und an einem Buch zu arbeiten, ungestört, in seiner eigenen Ruhe, herrlich. Und da wollte ihm diese Frau seinen Raum, sein bisschen Freiraum wegnehmen, ihn wie einen Kanarienvogel in einen Käfig sperren! Fast hätte er vor Wut dem Kleiderschrank einen kräftigen Tritt versetzt. Stopp, sagte er sich, cool bleiben, wenn ich mein Forschungsjahr nicht mit Beziehungsgezänk verplempern will, muss ich jetzt meine Koffer packen und raus. Andere Luft, andere Umgebung, Ruhe zum Denken und Arbeiten, das ist es.
Er packte ein paar Sachen zusammen und fragte seinen Freund Georg, ob er bei ihm übernachten könnte. Als er am nächsten Morgen mit Georg zusammen beim Frühstück saß, rief ihn Rebecca an. Der Anwalt drängelte, er möge doch bitte innerhalb eines Monats vorbeikommen. Gerrit begriff sofort die Chance, die sich ihm bot and sagte: „Klar, ich würde am liebsten noch heute fliegen, morgen würde es auch gehen.“ Rebecca ließ sich ihre Verblüffung nicht anmerken und antwortete nur trocken, sie werde sich um Flugtickets bemühen.
Ein paar Stunden später war alles vorbereitet, die Flüge gebucht, der Mietwagen bestellt. Er würde in Viktorias Haus wohnen und von ihrem Anwalt hören, was der ihm mitzuteilen hatte. Rebecca mailte ihm Abfahrts- und Ankunftszeiten zu, die Adresse des Anwalts, die Fahrtroute und erinnerte ihn an die Zeitverschiebung. Unter der Aufstellung wünschte sie ihm nochmals eine erfolgreiche Reise. Sie hatte alles mit Rebecca gezeichnet, ohne Nachnamen, aber auch ohne ein handschriftliches Zeichen. Darunter stand noch: „Pass auf mit dem Linksverkehr. Du weißt, der Straßenrand darf nie an deiner Fahrerseite sein.“
In der gläsernen Abflughalle des Flughafens schoben genervt wirkende Menschen emsig ihre gepäckbeladenen Trolleys vor sich her. Es war noch früh am Tag, aber trotzdem standen schon viele Fluggäste in der Schlange an der Sicherheitskontrolle. Als diese einschüchternde Maßnahme überstanden war, ließ er sich einer jungen Frau gegenüber in einen Metallstuhl fallen, dessen Härte ihn nicht willkommen hieß.
Die junge Frau, die erstaunlich tiefschwarzes dichtes Haar hatte, zog ein buntes Magazin aus ihrer Einkaufstasche. Sie schlug es mittendrin auf. Gerrit bemerkte, wie er mit seinem Fuß wippte, dazu im Rhythmus ständig die Schultern hochzog. Das wird schon alles glatt gehen, sagte er sich, um sich zu beruhigen. Er betastete zum dritten Mal die Innentasche seiner Jacke, in die er seinen Pass gesteckt hatte, suchte fahrig seine Boarding Card, fuhr bei jeder Lautsprecheransage auf, vor lauter Angst, er könne seinen Flug versäumen.
Gerrit hatte noch nie einen Flug verpasst, aber die ganze Sache ließ ihn einfach nicht los. Erst verschwindet die Tante spurlos, dann dieser dringende Termin bei ihrem Anwalt. Er konnte sich keinen Reim darauf machen. Dieser Anwalt hätte doch wenigstens mitteilen können, worum es denn nun ging! Telefonisch war er nicht zu erreichen, auf eine E-Mail antwortete er entschuldigend, er sei leider nicht befugt, vor ihrem Treffen etwas zu sagen. Das sei die Anweisung seiner Klientin. Blöde Geheimnistuerei! Müssen sich Anwälte derart wichtig geben oder ist das die feine britische Art?
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