Jamals eigener Vater würde ihn lieber ersäufen, als sich mit seinen Neigungen abzufinden oder sie gar zu akzeptieren.
Für Jamal war es besser, wenn er seinem Vater gar nicht erst unter die Augen trat.
Lisa und Faith saßen längst im Bus. Sie hatten sich von den Freunden verabschiedet und zum Schluss noch Christian und Jamal nachgewinkt, bis der Wagen mit Christians Vater am Steuer verschwunden war.
„Maybach 63, diese High-End-Luxuslimousinen definieren die Spitze exklusiven Automobilbaus“, piepste Lisa plötzlich neben Faith mit hoher Stimme und arrogant hochgezogenen Augenbrauen. Sie imitierte damit vollendet, was Patricia eine halbe Stunde zuvor ihren Freundinnen mitgeteilt hatte. Die beiden Mädchen brachen in haltloses Gelächter aus. Sie klammerten sich an die Haltestange im Bus, als sie an die Szene dachten, die sich gerade noch vor ihren Augen abgespielt hatte.
Patricia, von oben bis unten ganz in Weiß gekleidet, was ihre prachtvolle schwarze Mähne besonders gut zur Geltung brachte, war oben auf der Treppe vor de m Eingangsportal der Schule erschienen.
Begleitet wurde sie von einigen ihrer Vasallen die, Miriam allen voran, ihr Gepäck trugen.
Die Stufen waren von Herrn Zorn, dem Hausmeister, der von den Schülern nur der „Zornige“ genannt wurde, eben mit Salz enteist und danach mit Asche bestreut worden, sodass ein grauer feuchter Belag die Treppe bedeckte.
Der Chauffeur ihres Vaters stand neben dem riesigen Wagen, eben diesem Maybach 63, die Mütze in der Hand, und riss in dem Moment die Wagentür auf, als Patricia die Stufen hinabstieg.
Drei schneeweiße Zwergpudel, die alle zierliche goldene Halsbänder trugen, hüpften aus dem Wagen, rasten auf Patricia zu und sprangen mit ohrenbetäubendem Kläffen an ihr hoch.
Das Mädchen sah danach aus wie ein verdreckter Harlekin und schrie wie ein Fischweib, während sie versuchte, sich die kleinen Biester mit Tritten vom Leib zu halten.
Nachdem die Hunde eingesammelt worden waren, stieg Patricia wütend in den Wagen, nicht ohne dem Chauffeur zuzuzischen, er könne sich schon mal einen anderen Job suchen.
Lisa und Faith lachten immer noch, als sie bei Robert ankamen, der stöhnend zum dritten Mal an diesem Tag Schnee schippte. Ihre Augen leuchteten vor Vergnügen, ihre Wangen glühten vor Kälte. Robert dachte, dass es eine Freude war, die beiden jungen Mädchen anzusehen.
„Könntet ihr einem alten Mann wie mir diese Schwerstarbeit mal abnehmen?“
Lisa lachte ihn unverhohlen aus, warf ihm eine Kusshand zu und verschwand wortlos in der Küche. Faith umarmte ihn.
„Komm, alter Mann, fegst du jetzt schon für die Rehe und Hasen heute Nacht?“
Sie zerrte ihren Vater mit ins Haus.
„Lisa macht ihren wunderbaren Nudelauflauf, wir beide haben noch Zeit für eine Zankpatience.“ Dieses Kartenspiel für zwei Personen, bei dem sie ihren Vater regelmäßig schlug, liebte Faith besonders.
Lisa hörte mit halbem Ohr die Streitereien zwischen Vater und Tochter. Jedes Mal gerieten sich die beiden bei diesem Spiel in die Haare, erfanden neue Regeln und behaupteten, der andere habe gemogelt.
Nicht umsonst hieß das Spiel Zank- oder Streitpatience.
Lisa schnitt Schinken und abgezogene Tomaten in kleine Stücke, machte aus Sahne, Eiern und gehobeltem Käse eine Sauce, mischte das Ganze mit den gekochten Nudeln und füllte alles in eine gebutterte Auflaufform, um diese dann in den vorgeheizten Backofen zu schieben.
Sie dachte an das Restaurant, das sie eröffnen wollte. Kochen war nun mal ihre große Leidenschaft. Es würde ein kleines Lokal mit wenigen Tischen und einer Sterneküche werden. Dass sie einen Stern erhalten würde, war für Lisa völlig selbstverständlich. Im Geist sah sie bereits die weiß gedeckten Tische, an denen Feinschmecker saßen, die von weit her kamen. Lisas würde dieser Tempel der Gaumenfreude heißen.
Die Feiertage waren wunderbar gewesen, außer der Tatsache, dass Faith während der gesamten Zeit mit der neuen CD von Leonard Cohen lautstark das ganze Haus beschallte, während Robert versuchte, Cohen mit Arien von Händel zu übertönen.
Sie waren mit dem Schlitten unterwegs gewesen, hatten Schneeballschlachten veranstaltet und Robert mit Schnee eingeseift, bis sie vor Lachen zusammenbrachen. Den Rest der Zeit hatten sie lesend, Karten spielend und redend vor dem flackernden Feuer am Kamin verbracht. Die Kekse, die Lisa gebacken hatte, waren längst aufgegessen.
Einen Tag vor Faiths siebzehnten Geburtstag hatte Robert den alten Grill unter dem hölzernen Vordach am Kücheneingang des Hauses aufgebaut. So konnte Faith draußen mit ihren Gästen grillen und, wenn es zu kalt werden würde, in der geräumigen Küche essen.
Jetzt war er unterwegs, um seine Bestellungen beim Schlachter abzuholen.
Fast drohend, wie schwarze Skelette, hoben sich die froststarren Äste der laublosen Bäume links und rechts der Straße in den tief hängenden Himmel. Eine ganz blasse Mondsichel, fast durchsichtig, hing am dunkler werdenden Himmel, dessen graue Kuppel schwer vom Schnee war. Jeden Moment, so schien es, konnte sie sich öffnen.
Robert hoffte, er würde es noch nach Hause schaffen, bevor die Schneelast von oben den Waldweg unbefahrbar machte.
Es war den ganzen Tag nicht richtig hell geworden. Ihn beschlich ein Unbehagen, das Furcht sehr nahe kam.
Der Ring, den er Faith heute um Mitternacht geben würde, brannte in seiner Tasche.
Seit Magalie ihm den magischen Schmuck gegeben hatte, hatte er sich nicht mehr von ihm getrennt.
Er wusste, dass die Magie des Ringes sehr wichtig für seine Tochter werden konnte.
Jetzt fing es wieder leise an zu schneien. Er trat auf das Gaspedal. Fast hätte er sich wieder quergestellt. Erschrocken nahm er den Fuß vom Pedal. Es wurde immer dunkler, das Schneegestöber dichter.
Plötzlich sah Robert zwei violette Lichter durch den Schnee geistern und hörte eine betörende Weise, Töne, die ihn beinahe willenlos machten. Er hielt an. Ohne, dass es ihm bewusst war, stieg er aus, um dieser süßen Melodie zu folgen. Der glitzernde Schnee blendete ihn. Vorsichtig und wie gebannt setzte er dennoch Schritt vor Schritt.
„Was ist los?“
Eine tiefe Stimme zerriss den Zauber und brachte ihn zurück in die Wirklichkeit. Die lockende Melodie zerfiel wie klirrendes Glas.
Die violetten Lichter waren verschwunden. Robert hörte nur noch den laufenden Motor des Wagens, der hinter seinem eigenen zum Stehen gekommen war.
„Ist etwas mit ihrem Wagen, können wir helfen?“
Die kräftige Stimme gehörte einem schwergewichtigen Mann, der inzwischen ausgestiegen war und in Begleitung zweier junger Männer auf ihn zukam.
„Nein danke.“ Verwirrt blickte Robert die drei an und erkannte Christian und Jamal.
„Sie müssen Christians Vater sein. Es ist alles in Ordnung.
Ich dachte ich hätte auf dem Weg etwas gesehen und wollte mich vergewissern, dass ich gefahrlos weiterfahren kann“, log er.
„Bei dem Schneetreiben ist ja kaum noch etwas zu erkennen, deswegen bringe ich Ihnen die Burschen schon jetzt“, erwiderte Christians Vater Hugo, nachdem er sich Robert vorgestellt hatte.
„Wie gut, dass Sie Platz haben, die ganze Bande in ihrem Haus übernachten zu lassen, später wird gar kein Durchkommen mehr sein.“
Christian unterbrach seinen Vater: „Jamal und ich könnten doch gleich mit Robert weiterfahren. Dann kannst du in den Gasthof zurückkehren, bevor der Weg unbefahrbar wird. Und denk dran, Gaby macht die besten Rouladen mit Bratkartoffeln, die du je gegessen hast.“
„Gute Idee, dann schnappt euch eure Schlafsäcke. Und vergesst die Geschenke nicht!“
Nach herzlichen Umarmungen und heftigem Schulterklopfen fuhren Christian und Jamal mit Robert weiter, während Christians Vater, dessen Augen verdächtig feucht schimmerten, umkehrte, um im Dorf zu übernachten.
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