1 ...8 9 10 12 13 14 ...19 „Solltest du nicht in der Schule sein?“
„Und du?“, parierte Richard sofort, ohne ihre Frage zu beantworten.
Dieser Junge war sehr anziehend und Faith hatte seine Umarmung keineswegs als unangenehm empfunden. Sie wandte sich ab.
„Ich sollte gehen.“
Richard blieb neben ihr, als sie loslief, um zur Bushaltestelle im Dorf zu gelangen.
Auf keinen Fall wollte sie heute noch einmal diesem Wolf begegnen.
Das Mädchen und der Junge liefen einträchtig im selben Rhythmus nebeneinander her. Sprachlos hingen sie ihren Gedanken nach.
Sie bemerkte nicht die Blicke, die ihnen folgten, aber Richard wusste, dass etwas ganz schief lief. Er war ganz bestimmt nicht hierhergekommen um dieses Mädchen zu beschützen. Und doch hatte er keine Sekunde gezögert, genau dies zu tun, als er sie im Wald sah.
Sie war ein Wunder, so schön und anmutig in seinen Augen, dass es wehtat. Er hatte nicht damit gerechnet, dass er, seit er zum ersten Mal die Klasse betreten hatte, den Blick nicht mehr von ihr lassen konnte.
Und jetzt brachte er sie zum Bus, weil er Angst um sie hatte.
Was war nur in ihn gefahren, er kannte sich selbst nicht mehr. Aber wie sie da so selbstverständlich und vertrauensvoll neben ihm herlief, konnte er sie nicht der Gefahr überlassen, die im Wald zweifellos gelauert hatte.
„Vater“, dachte er.
Nachdem er Faith sicher zum Bus gebracht hatte, lief Richard zurück in den Wald. Seine Laufschuhe knirschten auf dem glitzernden Schnee, er war glücklich, wie immer, wenn er laufen durfte.
Er liebte den Wald, den Sonnenschein und die kalte, klare Luft, die ihn umgab. Im Gegensatz zu seinem Vater konnte er dem „Schattenreich“, das dieser bevorzugte, gar nichts abgewinnen.
Als er den Wolf fand, lag das Tier tief geduckt im Schnee und leckte eine Wunde am rechten Hinterlauf. Richard hockte sich neben ihn. „Hat er dich gefunden?“
Der Wolf fiepte leise. Er hob den Kopf, um ihn auf Richards Knie zu legen. Murat sah ihn aus seinen gelben Augen an und leckte die Hand, die ihn beruhigend streichelte.
„Einer wie der andere.“
Richard richtete sich auf und drehte sich um. Er hatte gewusst, dass er Leathan hier treffen würde. Die violetten Augen seines Vaters waren wütend und voller Verachtung auf ihn gerichtet.
„Kein Mumm in den Knochen. Heute hättest du sie mir bringen können. Wenn ich sie habe, werde ich auch Magalie besitzen. Warum hast du sie zum Bus gebracht, hatte ich mich nicht deutlich ausgedrückt?“
Richard schwieg, was hätte er auch sagen können. Wenn er seinem Vater von den Gefühlen, die er Faith entgegenbrachte, berichten würde, würde er ihn mit Hohn und Spott überhäufen.
Leathan kannte keine Gefühle außer Hass und den Wunsch zu besitzen, den er mit Liebe verwechselte. Gier nach Macht war sein Antrieb, gepaart mit einer dunklen Lust an Zerstörung.
Richard liebte seinen Vater dennoch, wie ein Mensch eben den Einzigen liebt, der ihm zur Verfügung steht. Eine andere Familie hatte Richard nicht. Aber jetzt fürchtete er, würde er sich entscheiden müssen.
Konnte er Faith verraten, sie einem so grausamen Schicksal wie dem Leben in der Dunkelwelt ausliefern? Leathan blickte seinen Sohn kalt und abwartend an.
Leathan, das wusste Richard, war noch reizbarer als sonst. In der Welt der Sterblichen waren seine magischen Kräfte beträchtlich eingeschränkt. Ohne diese Macht fühlte er sich unsicher.
„Faith“, sagte Richard, „hat mich zu ihrem Geburtstag eingeladen.“
„Strapaziere nicht meine Geduld, das ist deine letzte Chance.“ Der dunkle Elf hasste es, sich in einer Welt aufzuhalten, in der er Magie nur begrenzt einsetzen konnte. Leathan verschwand, ohne ein weiteres Wort, in einem rasenden Wirbel aus Asche, und ließ die beiden Gefährten allein zurück.
Richard vergrub sein Gesicht in Murats strubbeligem, warmen Fell.
Hatte sie wirklich gerade Richard zu ihrem Geburtstag eingeladen? Sie musste den Verstand verloren haben. Sie traute ihm nicht und lud ihn im selben Moment ein?
Faith sah aus dem Fenster und war froh darüber, dass sie sicher im Bus saß und nicht noch einmal durch den schon dunkler werdenden Wald laufen musste.
Sie hatte, erinnerte sie sich, Richard auch noch freigestellt jemanden mitzubringen. Das konnte ja heiter werden. Ob sie ihm wieder absagen sollte? Nein, das würde auch nicht gehen. Sie musste Robert um Rat fragen.
Aber Robert war nicht da, als sie nach Hause kam.
Sie nahm sich einen Apfel aus der Obstschale auf dem Küchentisch und schleppte sich ins Wohnzimmer. Faith merkte erst jetzt, wie müde und erschöpft sie war. Nachdem sie das fast heruntergebrannte Feuer im Kamin wieder entfacht hatte, ließ sie sich in ihre Lieblingsecke auf dem Sofa fallen, wickelte sich in ihre Decke und schlief, den angebissenen Apfel in der Hand, sofort ein.
Faith hatte die Frau, die sich über sie beugte, noch nie gesehen.
Und doch kannte sie das Gesicht, es war ihr eigenes.
Eine Flut roter Haare umrahmte das zarte, ebenmäßige Gesicht. Grüne Augen sahen sie sehnsüchtig und voller Liebe an. Aber auch Besorgnis und Unruhe lagen in diesem Blick. Neben ihr stand Robert, den Arm liebevoll um die Frau gelegt.
„Magalie, du musst zurück, hier bist du nicht sicher.“
Robert zog Magalie aus dem Raum.
Als Faith erwachte, war es draußen bereits dunkel geworden, nur der helle Schnee verhinderte, dass die Nacht ganz schwarz wurde. Im Kamin glomm noch ein Rest Glut. Der Schnee schimmerte und glitzerte trotz der Dunkelheit. Sie hatte fest geschlafen. Trotzdem fragte Faith sich, ob sie wirklich nur geträumt hatte.
Der Traum, in dem sie Magalie und ihren Vater gesehen hatte, war so echt, so verdammt realistisch gewesen, so, als ob sie das wirklich erlebt hätte. Es war ein in Abständen wiederkehrender Traum, der sie schon ihr Leben lang begleitete. Immer war das Gesicht dieser Frau fremd und vertraut zugleich, und immer zog ihr Vater sie aus dem Raum, bevor Faith erwachte. Erst jetzt erkannte sie, dass es ihre Mutter gewesen war, die sie in diesen „Träumen“ gesehen hatte.
Faith stand auf und sah hinaus in die Dunkelheit, in die die kleinen Eiskristalle auf dem Schnee farbige Blitze schossen. Sie bemerkte die Fußspuren, die den sonst makellosen Schneeteppich zerstört hatten. Also war jemand hier gewesen, und dieser jemand war nicht allein gewesen.
Weit entfernt in der zunehmenden Dunkelheit glaubte sie, ein zartes, bläuliches Licht aufblitzen zu sehen.
Magalie löste sich aus Roberts Armen und streifte den Ring vom Finger, den sie immer getragen hatte.
„Nimm ihn für unsere Tochter und sag ihr, sie soll ihn niemals wieder absetzen, er wird sie beschützen.“
Sie gab ihm den herrlich gearbeiteten Ring mit dem sanft schimmernden Mondstein.
„Aber“, begann Robert.
„Nein, Liebster“, unterbrach sie ihn, „ich habe genug Magie, auch ohne diesen Ring, aber unsere Tochter wäre schutzlos ohne ihn. Gib ihn ihr an ihrem Geburtstag, mach dir keine Sorgen um mich.“
Mit diesen Worten verschwand sie und wie immer ging auch das blaue Licht mit ihr.
Robert hatte, wie jedes Mal wenn Magalie ihn auf diese Weise verließ, das Gefühl, das Licht seines Lebens zu verlieren. Wenn er Faith nicht gehabt hätte, wäre er mit Magalie gegangen und hätte auf seine Sterblichkeit verzichtet.
Er wusste, wenn er länger als neunzig Tage in Magalies Welt bliebe, würde er für immer bleiben oder bei seiner Rückkehr sterben müssen.
Eine einzige Möglichkeit gab es, den zu retten, der zu lange geblieben war. Aber selbst Magalie kannte sie nicht.
Nur diejenigen, die einer Verbindung zwischen Unsterblichen und Sterblichen entsprangen, konnten in beiden Welten leben.
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