Die beiden Mädchen hatten, während Robert das Grillfleisch bei Peter Hack aus dem Dorf abholte, ein köstliches kaltes Buffet gezaubert. Faith war unruhig. Sie dachte an Robert und erschauerte, als sie an die letzte Fahrt mit ihm dachte. Erleichtert hörte sie gleich darauf sein altes Gefährt keuchend auf dem gepflasterten Hof vor dem Haus.
Christian und Jamal halfen Robert beim Feuermachen, um später genug Glut zum Grillen da zu haben. Draußen wurde es jetzt sehr schnell richtig dunkel, dennoch trafen die Freunde trotz des zunehmenden Schneetreibens und der Dunkelheit pünktlich ein.
Alle außer Richard, mit dessen Kommen Faith kaum noch rechnete.
Frau Dr. Kirchheim-Zschiborsky hatte den kleinen Schulbus zur Verfügung gestellt und so waren alle zur gleichen Zeit und sicher erschienen. Faith hob bei jedem Türklappen unruhig den Kopf. War Richard doch noch gekommen?
Sie ärgerte sich über ihre Unruhe und die kaum eingestandene Erwartung, Richard heute noch zu sehen. Auf der anderen Seite wünschte sie sich, dass er gar nicht käme. Seine Anwesenheit würde den Abend nur unnötig kompliziert gestalten. Er war so undurchschaubar. Genauso wie ihre Gefühle ihm gegenüber.
Dennoch musste sie immerzu an ihn denken und gab sich Mühe, die anderen ihre Unruhe nicht merken zu lassen. Bis auf Lisa ließen sich alle täuschen.
„Alles klar?“, flüsterte Lisa ihr im Vorbeigehen zu und eilte, ohne auf Antwort zu warten, mit einem großen Tablett voller marinierter Fleischstücke durch die offen stehende Küchentür.
Gerade in dem Moment hörte man vor der Eingangstür das satte Geräusch eines schweren Motors.
Draußen stand der schwarze Maybach. Ein dunkler Koloss. Ihm entstiegen Patricia, Ben und Richard.
Der Wagen verschwand gleich darauf wie ein Schatten leise in der Nacht.
Robert führte die drei Neuankömmlinge durch die Eingangshalle direkt in die Küche und von dort wieder hinaus in die Kälte, wo sie von den Freunden verblüfft und ein bisschen ungläubig begrüßt wurden.
Richard begrüßte zuerst Faith: „Danke für die Einladung, ich habe Patricia und Ben mitgebracht. Du hattest mir erlaubt, jemanden mitzubringen.“
„Natürlich, wie nett“, stotterte Faith.
Sie hatte gelernt, dass Gastfreundschaft etwas sehr Wichtiges ist und verhielt sich mustergültig höflich.
Faith dachte darüber nach, dass Richard erst sehr kurz im Internat war und bestimmt noch keine Gelegenheit gehabt hatte, Freunde zu gewinnen. Also nahm er die beiden mit, die er am besten kannte. Das war ja zu verstehen. Er hatte sicher noch nicht feststellen können, wer mit wem befreundet war oder eben auch nicht.
Patricia flüsterte Ben etwas zu, der daraufhin aus der Tasche seines Parkas ein Päckchen holte, das er Patricia gab. Sie trat zu Faith und überreichte ihr das in goldene Papier eingewickelte Geschenk, das Faith dankend entgegen nahm.
„Ich lege es auf meinen Geburtstagstisch zu den anderen Geschenken. Ich bin wirklich genau um Mitternacht geboren, erst dann kann ich Glückwünsche annehmen und Geschenke auspacken. Bei dem Punkt bin ich tatsächlich richtig abergläubisch.“
Damit ging sie, um das kleine Paket in das Kaminzimmer zu bringen. Sie war neugierig zu sehen, was Ben und Patricia für sie ausgesucht hatten. Aber sie würde warten müssen.
Inzwischen lagen Würste und Steaks auf dem Grill.
Noah hatte sich gerade den Gaumen verbrannt, weil er wie immer nicht abwarten konnte, bis die Bratwurst etwas abgekühlt war. Er hüpfte mit schmerzverzerrtem Gesicht auf einem Bein herum, zog eine Riesenshow ab und schrie nach kaltem Wasser.
Lena drückte ihm ihr Glas in die Hand und sah ihn dabei liebevoll lächelnd an.
„Er braucht einen Arzt“, johlte Paul, der Witzbold vom Dienst. „Und bald auch einen zum Fettabsaugen“, ergänzte er.
„Ich bin nicht dick, ich bin kräftig, alles Muskeln“, wehrte sich Noah gegen diese Unterstellung.
In der Küche sah es aus, als hätte ein Tornado darin gewütet.
Die Köstlichkeiten vom Buffet waren weitgehend aufgegessen. Schmutzige Teller und Schüsseln standen restlos leergegessen auf jeder möglichen und unmöglichen Ablage. Alle hatten sich vor der Kälte und dem zunehmenden Schneegestöber, das mit heftigen Windböen daherkam, ins Haus geflüchtet.
Draußen war es finster. Die Schneewirbel, die der Wind vor sich hertrieb, wirkten wie schwere flatternde Tücher auf einer unsichtbaren Leine. Die Küchentür klapperte leise im Wind, der die Glut im Grill unter dem hölzernen Vordach immer wieder neu entfachte.
Bernsteinfarbene Lichter am Rande des Waldes.
Robert stand im Kaminzimmer mit dem Rücken zum flackernden Feuer. Da er alle Lichter gelöscht hatte, wirkte er wie ein riesiger Scherenschnitt vor einem leuchtenden züngelnden Hintergrund.
Der Mondsteinring in seiner Hand pulsierte wie ein kleines, warmes Herz, als die alte Standuhr mit rasselndem Keuchen zwölfmal zu schlagen begann. Jeder Schlag hallte in dem fast dunklen Raum unheimlich nach.
Düstere Drohung.
Faiths Gäste standen abwartend vor Robert, jeder mit einem Glas Champagner in der Hand, dessen aufsteigende Perlen kleine farbige Lichtblitze abgaben. Ohne es zu bemerken, drängten sie sich näher aneinander.
Faith wusste nicht warum sie immer in diesem Moment die Fassung verlor. Silvester war, seit sie denken konnte, ein sehr emotionaler Moment für sie gewesen. Sie hatte das Gefühl, etwas Bekanntes zu verlieren und dafür etwas zu bekommen, von dem sie nicht wusste, was es bringen würde. Eine diffuse Furcht regte sich jedes Mal in ihr. Und war es nicht so? Um Mitternacht geboren, hatte sie die Geborgenheit des Mutterleibes verlassen, um in eine gefahrvolle Zukunft einzutauchen.
Sie wandte sich ihrem Vater zu und wartete auf den zwölften Pendelschlag. Beim letzten Schlag nahm Robert seine Tochter in die Arme.
„Mein Liebling, alles Gute zum neuen Lebensjahr“, flüsterte er. „Dieser Ring wird dich schützen, deine Mutter gab ihn mir für dich und du solltest ihn niemals wieder ablegen!“
Er nahm ihre Hand und streifte seiner Tochter den Ring über den Finger.
Im selben Moment zerschnitt grelles Licht die Dunkelheit. Gleißendes Weiß erhellte schmerzhaft die lodernde Finsternis und ließ die Gesellschaft für einen Augenblick zu eisigen Statuen erstarren.
Das alles geschah im Bruchteil einer Sekunde und keiner der Gäste ahnte, dass ihm für immer ein winziger Kristall, ein Splitter seiner Vergangenheit fehlen würde.
Mit einer Ausnahme … Richard, der gerade erst den Raum betrat, wurde leichenblass.
Ein ohrenbetäubendes „Prost Neujahr“ aus jugendlichen Kehlen, gemischt mit herzlichen Glückwünschen für das Geburtstagskind, durchbrach diesen eisigen, unfassbaren Augenblick.
Einen Moment hielt er seine Tochter noch fest, dann musste Robert Faith ihren Freunden überlassen.
„Warum gerade sie“, dachte Robert, als er Faith im Kreise ihrer Freunde sah. Warum konnte sie nicht wie die anderen jungen Leute ein normales Leben leben?
Faith ließ fast willenlos Glückwünsche und Umarmungen über sich ergehen. Am liebsten hätte sie sich verkrochen, um in Ruhe über das eben Erlebte nachzudenken. Verunsichert und verängstigt versuchte sie zu verstehen, was geschehen war. Hatten die anderen wirklich nichts bemerkt?
Der kalte Strahl, der sich aus dem Mondstein wie eine eisige Welle ergossen hatte, hatte für einen kurzen Zeitraum jede Bewegung zum Erliegen gebracht.
Faith riss sich zusammen.
Faith packte ihre Geschenke aus und fand in einem kleinen Samtetui ein zierliches Kettchen, dessen silbrige, matt schimmernde Glieder wie die Schuppen einer Schlangenhaut leicht überlappend angeordnet waren. Die Kette lag weich um ihren Hals, wie ein lebendiges Wesen. Faith durchlief ein Schauder, als Richard ihr das Schmuckstück anlegte und seine Finger ganz zart ihren Nacken berührten.
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