Magalie hatte ihm erklärt, dass die Sterblichen die Zeit in der Anderswelt als sehr kurz empfinden. In Wirklichkeit sei diese Zeit um ein Vielfaches länger als die in seiner Welt.
Als Robert zum Haus zurückkam, sah er an der Terrassentür die dunkle unbewegliche Gestalt seiner Tochter. Der Ring in seiner Tasche fühlte sich an, als hätte er ein Zentnergewicht zu tragen. So schwer waren auch seine Gedanken, wenn er an die Gefahr dachte, in der Faith in ein paar Tagen schweben würde.
„Sie war hier, nicht wahr?“
Faith hatte die Tür geöffnet, ein Schwall eiskalter Luft kam ihr entgegen.
Es war das erste Mal, dass Faith ihn das fragte. In all den Jahren, in denen Magalie kam, um ihn und ihre Tochter zu sehen, hatte sie ihn nicht darauf angesprochen.
Früher mochte sie diese Besuche für Träume gehalten haben. Jetzt nicht mehr.
Robert fragte nicht, wen Faith meinte, er wusste es. Und sie wusste, dass er es wusste.
„Ja, Magalie ist hier gewesen.“
Robert schloss die Tür. Er sah mitgenommen und traurig aus. Faith sah ihn fragend an, aber sie zögerte, weiter in ihn zu dringen.
Sie schwieg, weil sie spürte, wie schlecht es ihm ging.
Wieder fiel Schnee und verdeckte die Spuren, die vom Haus wegführten hin zu dem großen alten Baum am Grundstücksende. Faith blickte auf die langsam schwindenden Fußspuren und sehnte sich plötzlich so schmerzhaft nach ihrer Mutter wie nie zuvor.
Sie hatte sie nie kennengelernt. Robert war ihr immer Vater und Mutter zugleich gewesen. Jetzt aber, da sie wusste, wie nah Magalie war, tat die Sehnsucht nach ihr beinahe körperlich weh.
„Zwei Menschen“, dachte sie, „in einem Haus, die über ihre Gefühle nicht sprachen um dem anderen nicht wehzutun.“
Wütend wischte sie die Tränen, die ihr plötzlich in die Augen stiegen, mit dem Handrücken weg und drehte sich um, um haltlos schluchzend Robert in die Arme zu fallen, der leise hinter sie getreten war. Alle Schleusen öffneten sich. Eine Flut von Tränen durchnässte Roberts Pullover.
Faith weinte, bis sie keine Tränen mehr hatte.
Robert hielt sie fest und barg sein Gesicht in ihren wirren roten Locken. Vater und Tochter redeten bis tief in die Nacht. Endlich gestanden sie sich ihre Ängste und Sehnsüchte.
Als Faith am nächsten Morgen ihren Klassenraum betrat, hörte sie Patricias Stimme.
„Was haben die Unberührbaren denn berührt?“
Sie zeigte dabei hohnlachend auf die bandagierten Handgelenke der Zwillinge. Viktor und Valerie ignorierten Patricia völlig, während Miriam in das alberne Gelächter Patricias einfiel.
Hinter Faith hatte auch Leonhard die Klasse betreten.
„Dass Miriam über deine überaus dämliche Bemerkung lacht, Patricia, kann ich notfalls noch verstehen, aber dass dir eine solche Dummheit überhaupt einfällt, wundert mich doch sehr.“
Leonhards Stimme war schneidend. Noch nie hatte Faith ihren Lehrer so wütend gesehen. Patricias Gesicht verzerrte sich zu einer arroganten Maske. Sie war es nicht gewohnt, gemaßregelt zu werden, schon gar nicht vor versammelter Klasse. Man hörte sie förmlich mit den Zähnen knirschen. Aber sie besaß wenigstens den Anstand, rot zu werden.
„Ich nehme an, du wirst dich nachher bei Valerie und Viktor entschuldigen.“
Ohne weiter von ihr Notiz zu nehmen, legte er seine Tasche auf den Tisch und zog die letzte Klassenarbeit daraus hervor.
Er verteilte die Hefte an die Schüler und gab Patricia ihre Arbeit mit den Worten zurück:
„Deine schriftlichen Ausführungen sind deutlich intelligenter als deine mündlichen, wie immer eine sehr gute, differenzierte Arbeit.“
Patricia war zweifellos eine seiner klügsten Schülerinnen, aber sie setzte Charme und Freundlichkeit nur da ein, wo es ihr sinnvoll erschien. Sie war berechnend, kalt und sie konnte taktlos bis an die Schmerzgrenze sein, wenn es ihr passte.
Patricia verzog geschmeichelt die knallrot geschminkten Lippen, aber in ihrem Inneren brodelte es. Sie kochte noch immer vor Wut. Dass ausgerechnet Leonhard sie vor der Klasse heruntergeputzt hatte, würde er büßen müssen, sie war sich sicher, dass ihr etwas einfallen würde.
Faith wusste nicht genau, warum ihr bei der Mimik von Patricia der tote Karpfen einfiel. Weihnachten, noch drei Tage, und sie würde wieder einen toten Karpfen überstehen müssen.
Vielleicht war es das aufgerissene Maul des armen Tieres, an das Patricias offener Mund sie jetzt erinnerte.
Robert und sie hatten Weihnachten stets allein verbracht. Aber immer gab es einen großen Baum, den sie gemeinsam schmückten, und einen Karpfen, den Robert allein essen musste.
Faith weigerte sich, ein totes Tier zu essen, dessen Augen noch im Tod um Gnade flehten.
Seit ein paar Jahren kam Lisa zu Beginn der Weihnachtsferien und blieb über die Silvesternacht hinaus. Da Lisa keine Skrupel hatte, dem Karpfen ins Gesicht zu sehen, hatte Robert endlich eine Mitesserin, mit der er Bäckchen und den Rest des Karpfens teilen durfte, denn Lisa war eine Feinschmeckerin.
Faith freute sich trotz des Karpfens auf den Abend.
Sie würden während der Vorbereitungen das Weihnachtsoratorium hören und, wenn der Baum geschmückt war, in die kleine Kirche des Dorfes fahren, um vor dem Abendessen den Gottesdienst zu besuchen.
Heute war der letzte Schultag im Internat und entsprechend locker ging es zu. Weder Lehrer noch Schüler hatten Lust zu geistigen Höhenflügen.
Der größere Teil der Schüler, die im Internat lebten, hatte schon gepackt, um im Laufe des Nachmittags entweder abgeholt zu werden oder mit dem Zug nach Hause zu fahren. Die drei kleinen Els mussten im Internat bleiben und teilten dieses Los mit Noah, Paul und Adam.
Keiner der sechs Freunde schien darunter besonders zu leiden, zumal Frau Dr. Kirchheim-Zschiborsky großen Wert darauf legte, das Fest für die zurückbleibenden Schüler so schön wie möglich zu machen.
Die große Halle wurde – von allen gemeinsam – mit Tannen- und Mistelzweigen, die die Schüler um die Säulen wanden, üppig geschmückt. Überall hingen Trauben von goldenen und silbernen Kugeln.
Ein gigantischer Tannenbaum stand in der Mitte der Halle, die Zweige mit Lametta und kleinen Geschenken behängt. Über seiner Spitze schwebte ein kitschiger goldener Weihnachtsengel aus Pappmaschee, der eine Flügelspannweite von fast drei Metern hatte. Die Direktorin hatte ihn von ihrer Großmutter geerbt.
Die ausladenden Äste des Baumes trugen dicke weiße Kerzen. Es wurden Lieder gesungen, die Lena und Laura am Klavier begleiteten. Lara las mit ihrer schönen Stimme wie jedes Jahr die Weihnachtsgeschichte vor.
Ein schneeweiß gedeckter langer Tisch brach unter der Last von Pasteten, kalten Braten, Salaten und Süßigkeiten fast zusammen. Gegen Mitternacht brachen die Schüler in Begleitung der Direktorin zur Messe auf.
Christian und Jamal wurden von Christians Vater abgeholt, um die Feiertage mit ihm in einem Ski-Hotel in der Nähe zu verbringen.
Zu Faiths Geburtstag würden sie nach Waldeck zurückkehren.
Jamal hatte keine Lust gehabt, den langen Flug an die Goldküste anzutreten, wo sein Vater gerade zum vierten Mal geheiratet hatte. Sein Vater war ein sehr reicher Mann. Als Generalexporteur für Aluminium konnte er sich praktisch alles leisten, auch eine vierte Ehefrau. Leisten konnte er sich auch, alle seine Kinder in teure Internate zu stecken, um ihnen die beste Ausbildung angedeihen zu lassen, die für Geld zu haben war.
Christians Vater war für Jamal der liebevollste Vater geworden, den er sich vorstellen konnte.
Er akzeptierte ihn so wie war und hatte keine Einwände dagegen, dass Christian und er nicht nur Freunde, sondern auch ein Paar waren.
Er hatte Jamal schätzen gelernt und nahm die Dinge, wie sie waren. Nun hatte er eben zwei Söhne statt des einen, und das war gut so.
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