Kim zeigte nach vorne und deutete auf die Straße. »Schau mal Keilschwanzadler.«
Auf der Straße balgten sich fünf der Vögel um den zusammengefahrenen Überrest eines Känguruhs. Die Tiere ähnelten dem deutschen Steinadler, nur dass die Schwanzfedern einen rautenförmigen Keil formten, woher sie auch ihren Namen hatten. Während Steven das Tempo verringerte, um ihnen Zeit zu geben sich flügelschlagend zu entfernen, sinnierte Hetty darüber nach, dass, wie immer im Leben, alles seine zwei Seiten hatte. Was den Menschen deprimierte war für diese Adler eine wunderbare angenehme Art der Futterbeschaffung geworden. Statt wie früher mühselig Jagd auf lebende Beute zu machen, kreisten die Tiere nun einfach stundenlang im Aufwind und warteten auf den nächsten Zusammenstoß um anschließend in aller Ruhe die Reste zu verwerten. Vom Adlerstandpunkt aus war die Mechanisierung eine richtig tolle Sache.
Hetty war ins Träumen gekommen, das monotone Brummen des Motors und der doch nicht so ganz erholsame Schlaf im Flugzeug hatten dafür gesorgt, dass ihr die Augen zufielen.
Der Übergang von der Teerstraße zum Waschbrettweg zu Kim und Stevens Minifarm weckte sie allerdings gründlich auf.
Jeder der schon einmal vom Offroadfahren geträumt hat, sollte ganz einfach zuhause mit fünfzig Stundenkilometer in ein tiefes Schlagloch fahren, um eine kleine Vorstellung davon zu bekommen, welche angenehmen Schmerzsignale die Rückenwirbel zum Gehirn senden, wenn man eine Piste mit einer unangemessenen Geschwindigkeit befährt.
Da Steven natürlich nicht die geringste Lust auf dauerhafte Bandscheibenschäden hatte, zuckelte er im gemächlichen Tempo auf das Farmhaus zu, das glücklicherweise nicht allzu weit entfernt von der Hauptstraße lag.
Trotzdem fühlte sich Hetty beim Aussteigen wie nach einer Ganzkörpermassage – allerdings keiner sonderlich angenehmen.
Während sie sich streckte, musterte sie das Haus von ihren Gastgebern, das auf einem kleinen gerodeten sandigen Areal stand und von hohen Eukalyptusbäumen umringt war. Es war größer als sie bei der Bezeichnung „Minifarm“ vermutet hatte und in der früher üblichen australischen Bauweise errichtet. Über ein paar Holzstufen trat man auf eine überdachte Veranda die das komplette Gebäude umgab und durch Holzsteher gestützt wurde. Der weißgestrichene, quadratische zweistöckige Holzbau war mit einem fahlgrünen Blechdach eingedeckt und ohne jegliche Schnörkel gestaltet.
Alle Fenster und Türen waren mit den obligaten Fliegengittern ausgestattet, die hier im Outback ein unbedingtes Muss waren. Sogar im Ausland wussten die Leute, dass es auf diesem Kontinent Fliegen gab. Viele Fliegen! Sehr viele Fliegen! Und die wollte man nicht im Haus haben, es genügte schon wenn man außerhalb der vier Wände alle paar Sekunden den australischen Gruß anbrachte. Als Hetty diese Bezeichnung das erste Mal hörte, hatte es eine Weile gedauert, bis ihr aufging, dass damit das automatische Handwedeln gemeint war, welches man einsetzte, um die Fliegen vom Gesicht zu verscheuchen.
Touristen, die nur kurz ins Land kamen, kauften sich zum Vergnügen der Einwohner oft Sonnenhüte, die mit Korken an Schüren oder Netzen ausgestattet waren, um die Fliegen abzuhalten. Damit sah man dann aus wie ein Trottel und wurde auch als solcher eingestuft. Die Verkäufer in den Andenkenläden rieben sich bei diesem Anblick freudestrahlend die Hände, denn wer so etwas trug, dem konnte man auch jeden anderen Unsinn aufs Auge drücken.
Hetty hatte bereits bei ihrem ersten Besuch in diesem Land den Rat berücksichtigt, der ihr von den Einheimischen in Sachen Fliegenplage gegeben worden war: Ignoriere sie oder verscheuche sie! Also ließ sie Fliegen Fliegen sein und wedelte nur mit der Hand, wenn die Biester glaubten, sie müssten sich auf ihren Lippen niederlassen. Denn schließlich redete sie nicht gerade wenig und hatte keinen Appetit auf chitinhaltige Nahrung.
Während Steven Hettys Gepäck auslud wandte sich Kim an Hetty. »Jetzt zeige ich dir erst mal das Haus und dein Zimmer.«
Sie traten durch die Haustüre direkt in den Wohnbereich ein, denn im Gegensatz zu deutschen Häusern gab es keinen Windfang. Allerdings war der zuhause eben dafür vorgesehen eine Barriere gegen die Kälte zu bilden und da es hier, wie in allen südlichen Ländern, meistens warm war, sparte man sich dieses überflüssige Bauelement. Das Wohnzimmer war im Landhausstil eingerichtet und ging in eine große moderne Küche mit freistehendem Herd über.
Kim deutete auf einen kleinen Flur der angrenzte. »Da hinten befinden sich die Arbeitsräume von Steven und ein Gästeklo.«
Über eine weißgestrichene Holztreppe führte der Weg nach oben, wo die Schlafräume und das Badezimmer untergebracht waren.
Ihre Gastgeberin öffnete die Türe zu einem der Räume und meinte lächelnd. »So, das ist dein Zimmer und hier gegenüber findest du das Bad. Fühle dich wie zuhause. Ich lasse dich jetzt in Ruhe auspacken und wenn du dich frisch gemacht hast, unterhalten wir uns unten am Pool weiter.«
»Ihr habt einen Pool?« Hetty war verblüfft. »Wo kriegt ihr denn das Wasser her?«
»Wir haben einen eigenen Brunnen, der aus dem artesischem Becken gespeist wird. Du hast doch sicher schon mal gehört, dass unter Australien in den porösen Gesteinsschichten Wasser vorhanden ist. Man muss einfach nur tief genug bohren, damit man es erreicht. Ein ehemaliger Studienkollege von Steven arbeitet bei einer Brunnenbohrfirma und die beiden haben einen Deal gemacht: Ein Monat Urlaub bei uns mit allem Drum und Dran – also Ausflügen zum Ayers Rock, Kings Canyon und den ganzen Schluchten in den MacDonnell-Ranges. Und dafür ist er dann mit einem Riesenanhänger voller Bohrausrüstung bei uns angelandet und hat gebohrt. Jetzt haben wir mehr als genug Wasser!«
»Und ich dachte immer, hier ist es nur knochentrocken.«
»Ja das meinen viele – aber es regnet hin und wieder ganz gewaltig und dann ist hier kurzzeitig Land unter. Und hinterher blüht dann das Outback, das kannst du dir nicht vorstellen – überall Millionen von Wildblumen. Sogar die ganzen Büsche und Bäume tragen dann Blüten, das ist ein Anblick den du nie wieder vergisst! Aber wir reden besser später weiter – ich verzieh mich jetzt und wenn du soweit bist komm runter - wir warten am Pool auf dich.«
Hetty sah sich um. Das Zimmer war klein, aber sehr gemütlich eingerichtet. Auf dem Bett mit Holzrahmen lag eine kunterbunte Patchwork-Tagesdecke und gegenüber standen ein Schrank und eine Spiegelkommode mit Hocker. An den Wänden hingen Aquarelle, die das australische Outback darstellten und den Ayers-Rock. Der Blick aus dem Fenster zeigte einen schattenspendenden Baum, dessen in langen Streifen abblätternde Rinde ihn deutlich als Eukalyptus auswies.
Sie wuchtete ihren Koffer und den Rucksack auf das Bett und machte sich ans Auspacken. Da sie immer systematisch einpackte, konnte sie mit ein paar Griffen ihre Sachen in den Schrank räumen, ganz abgesehen davon, dass die Gewichtsbeschränkung bei Flugreisen sowieso nicht viele Habseligkeiten zugelassen hatte. Aber das Wichtigste war dabei und mit dem Badeanzug in der Hand und der Kosmetiktasche unter dem Arm ging sie ins Bad.
Eine Generalrenovierung war dringend notwendig. Hetty hatte zwar beim Zwischenstopp in Singapur ihre Zähne geputzt und Katzenwäsche gehalten, aber inzwischen das sichere Gefühl bekommen, sie hätte etwas Totes im Mund. Und einmal mit der Bürste durch die Haare zu fahren, würde auch nicht schaden, was ihr ein Blick in den Spiegel bestätigte. Die lange Anreise hatte ihre Spuren hinterlassen und momentan sah sie sogar in ihrem eigentlich faltenfreien Gesicht erste Anzeichen, dass sie doch nicht mehr die Jüngste war.
Sie musterte ihr Alter Ego. An und für sich war sie ganz zufrieden mit ihrem Aussehen. Die hellbraunen halblangen Haare, die sie als Pagenkopf geschnitten trug, würden in der Sonne bald blonder werden, die grünen Augen glänzten trotz Übermüdung und der Rest war guter Durchschnitt. Nichts Großartiges, aber sie musste schließlich auch keine Schönheitskonkurrenz gewinnen. Und mit ihrer Figur konnte sie auch leben. Zur Zeit hatte sie zwar ein paar Pfunde zu viel auf den Rippen, aber die würden bei entsprechender Bewegung bald wieder weg sein. Abgesehen davon war sie ja nicht ausgezogen um ihren Traumprinz zu finden, sondern dieses Land zu erkunden. Und um nicht immer alleine ins Bett gehen zu müssen reichte es allemal. Kopfschüttelnd riss sie sich von ihrem Spiegelbild los. Immer diese ausufernden Gedankengänge. Jetzt wurde es aber wirklich Zeit endlich aus den Pötten zu kommen. Schnell schlüpfte sie in ihren Badeanzug und machte sich auf die Suche nach dem Pool.
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