Durch dieses übliche Anfangsgeplänkel hatte man auf alle Fälle für die erste Stunde ausreichend Gesprächsstoff. Dann wurden gegenseitig Tipps ausgetauscht, was man sich unbedingt und auf alle Fälle anschauen sollte. Welche Campingplätze gut waren und wo man besser die Biege machen sollte. Wo es die Supermärkte zu finden gab und ob irgendeiner etwas Besonderes im Angebot hatte.
Je nach Gegend und Jahreszeit kamen dann noch die Straßenverhältnisse dran: Buschfeuer, Überflutung oder Zyklonwarnung. Wobei ein Feuer oder ein Zyklon sich meist schnell verzog und eigentlich kein allzu großer Hinderungsgrund für eine Weiterreise war. Bei einer Flut musste man sicherheitshalber jeden Morgen die aktuellen Straßenzustände abfragen. Für das gab es eine kostenfreie Telefonauskunft für jedes der Bundesländer. Und diese Information war auch mehr als wichtig. Denn oft gab es weit und breit keine andere Möglichkeit zum Weiterkommen, als eben diese eine Straße, auf der man fahren wollte. Wenn man dann nach fünfhundert Kilometern Fahrt vor einer überfluteten Brücke stand und nur noch dumm schauen konnte, weil das Ding für die nächsten zwei Wochen wegen Hochwasser gesperrt war, war das nicht gerade spaßig. Denn nun musste man wieder umkehren und mal kurz einige tausend Kilometer durch die Gegend fahren, um auf die nächste befahrbare Querung zu kommen.
Auch dieser Abend lief nach dem gewohnten Schema ab, mit der netten Abwechslung, dass ein Ehepaar am Tisch schon eine Europareise hinter sich hatte und von ihren Erlebnissen erzählte. Der typische hintergründige englische Humor ist auch bei den Australiern vorhanden und so wurden die Geschichten mit kleinen Späßchen aufgepeppt.
Hetty fühlte sich wieder einmal pudelwohl. Hier war sie im richtigen Umfeld: Essen, Trinken, Reden und das Wetter immer schön warm.
Zumindest hielt sie selbst sich meistens dort auf, wo Wärme vorhanden war, schließlich hatte der liebe Gott einen Camper nicht erfunden, um ihn nur an einem Campingplatz stehen zu lassen. Nein, sie folgte dem Lauf der Jahreszeiten um den Kontinent und blieb immer schön in der Wärme.
Gut, manche Leute behaupteten, fünfunddreißig bis fünfundvierzig Grad im nicht vorhandenen Schatten wären keine Wärme, sondern unerträgliche Hitze. Doch Hetty hatte schon oft das Bedürfnis gehabt, sich bei zweiunddreißig Grad eine Strickjacke umzu¬hängen, weil es etwas frisch war und hatte definitiv andere Vorstellungen von einer angemessenen Wohlfühltemperatur.
Schließlich kam das Gespräch auf Hettys Herkunft. Es war nicht gerade üblich, dass Frauen in ihrem Alter alleine durch die Gegend reisten und sich das anscheinend noch dazu ganz gut leisten konnten. Also wurde nachgefragt warum und wieso.
Sie blickte in die Runde. »Da muss ich aber etwas weiter ausholen – wenn ihr Zeit genug habt?«
Da Australier liebend gerne Geschichten hören und Leute die auf Campingplätzen leben, nichts mehr als viel Zeit hatten, wurde sie natürlich aufgefordert zu berichten.
Alles hatte vor einigen Jahren begonnen. Nachdem sie lange Zeit vor sich hin gespart hatte, konnte sie sich endlich einen Jugendtraum erfüllen und Urlaub in Australien machen. Nach einer zweimonatigen Bus-Rundreise war sie von mehreren Dingen gleichzeitig überzeugt:
Erstens: Sie würde nie wieder eine Busreise machen!
Zweitens: Sie würde auf alle Fälle wieder in dieses wunderbare Land zurückkehren.
Da sie glücklicherweise ein paar Leute zum Mitreisen fand, landete sie bereits ein Jahr später wieder in Down Under. Dieses Mal hatte sie einen Camper gebucht, mit dem sie zu Dritt durch die Gegend fuhren und sich ein schönes Fleckchen Landschaft nach dem anderen anschauten. Damals war ihre Liebe zum Camperleben entstanden. Am Morgen mitten in der Natur aufzuwachen, von schreienden Vögeln geweckt zu werden, das ganze Umfeld der Campingplätze, dieses einfache Dasein, das war das, was ihr gefiel. So konnte sie sich ein Leben vorstellen.
Und somit hatte sie sich, wie vor ihr schon so viele Leute, mit dem australischen Virus, der anhaltenden Liebe zu diesem Land infiziert. Doch einer erneuten Wiederkehr stellte sich ihr nicht gerade üppiges Einkommen in den Weg.
Denn als einfache Angestellte hatte sie nicht genügend Geld, um sich wiederholte Australienaufenthalte zu finanzieren. Da half also nur sparen, sparen, warten, warten und sehnsuchtsvoll über den Urlaubsfotos vor sich hin zu träumen. Mit der Zeit mutierte diese Träumerei dann zu dem festen Vorsatz: Wenn ich in Rente gehe, wandere ich aus, kaufe mir einen Camper und bleibe unten.
Da waren nun ja noch einige Jährchen hin, aber rein rechnerisch gesehen konnte der Plan aufgehen – nur noch gute zwanzig Jahre und das Ziel war in greifbarer Nähe.
Natürlich war es möglich, dass sie bis dahin dem Siechtum verfallen war und dement in einem Altenheim vor sich hin sabberte, oder dass das sauer Ersparte der Vater Staat abkassiert hatte, aber ein Traum, war ein Traum, war ein Traum.
Von irgendetwas musste ein weiblicher Single schließlich noch träumen dürfen. Und die Idee mit dem Prinzen, der auf einem weißen Schimmel zur Befreiung der Jungfrau mit trommelnden Hufen in die Hauseinfahrt galoppiert kam, war dann doch eher unwahrscheinlich. Da lag die Perspektive Rentnerin in Australien doch erheblich näher und mehr in ihrer Vorstellungskraft.
Allerdings lag das alles in noch ferner Zukunft, und wenn sie keine Zeitreise gemacht hatte – warum war sie dann jetzt schon hier?
Hetty hatte ja an und für sich so eine Art negatives Glück. Legte man zum Beispiel elf Lose auf den Tisch mit zehn Nieten und ließ sie dann zehnmal wählen – die Nieten erwischte sie bestimmt alle.
Die Wahrscheinlichkeit den Haupttreffer zu erzielen bestand nur, wenn dieser aus etwas so Schönem wie einem abgenutztem Schaukelstuhl in einem Eiche-rustikal-Design bestand, der nicht mal als Feuerholz zu gebrauchen war.
Deshalb spielte sie selbstverständlich auch nicht Lotto und wer jetzt in der interessiert zuhörenden Runde gedacht hatte, sie hätte dann doch mal eine Ausnahme gemacht und das wäre es gewesen – das war es dann eben nicht.
Der Gang der Dinge war sogar noch unwahrscheinlicher.
Hetty wohnte in einer Siedlung auf dem Lande, und wie es auf dem Lande so üblich ist, unter guten Nachbarn, und die waren zahlreich vorhanden, half man sich gegenseitig.
Da ihre Nachbarschaft aus anhangslosen, ziemlich alten Damen und Herren zusammengesetzt war, bestand Hettys Hilfe aus Rasenmähen, Unkrautjäten, Straßenkehren und Schneeschaufeln, was mit Kuchenspenden, Haushüten und großmütterlichen und großväterlichen Betüteleien bedankt wurde.
Und so lebte sie Rasen mähend und Kuchen essend vor sich hin und wartete auf die Rente. Bis eines Tages ihre Nachbarn zum Kaffeekränzchen in die örtliche Konditorei gingen, um eine überstandene Grippe-Epidemie zu feiern. Allerdings wusste niemand, dass sich in den wunderbar großen Portionsstücken des Tiramisu, neben den guten Zutaten auch noch Salmonellen befanden, die sich bereits unzählig vermehrt hatten. Die Erreger kannten keine Gnade und bahnten sich ihren Weg in die, von der langen Krankheit geschwächten, Blutbahnen der ältlichen Herrschaften. Und bis die Ärzte endlich bemerkten, was da unterwegs war, hatten die lieben Nachbarn schon das Zeitliche gesegnet.
Hettys Entsetzen und Trauer war groß, die Zeitungen hatten ihre Schlagzeilen und die Konditorin eine Strafanzeige sowie ein geschlossenes Cafe.
Während sich Hetty Wochen später unruhig im Bett wälzte, flatterte ein Notarschreiben in ihren Briefkasten. In diesem stand, sie sollte doch bitte baldmöglichst anrufen, zwecks einer Terminvereinbarung. Was sie dann auch gleich tat. Um was es ging, sagte ihr keiner, aber sie hatte schon so eine leise Ahnung. Ihr Nachbar direkt nebenan hatte immer gesagt, sie kriege, wenn er sterbe, den Rasenmäher. Dass er dafür ein Testament machte, war zwar seltsam, aber so waren eben die alten Leute.
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