„Los, mach schon!“, befahl Xenia und packte Jan am Kragen. „Du bist der einzige von uns, der Dimitri retten kann. Wenn du dir den Raumanzug nicht sofort anziehst, dann stecke ich dich ohne in die Luftschleuse. Also beeile dich gefälligst!
„Wir haben aber keinen zweiten Raketenrucksack. Wie soll ich ihm denn helfen?“, versuchte sich Jan herauszureden.
„Du nimmst die Fangleine und machst sie außen an der Schleuse fest. Dann stößt du dich vom Raumschiff ab und sammelst Dimitri ein. Ist das klar?“, wies Xenia ihn streng an.
Widerwillig stieg Jan in den Raumanzug. Darin war es eng und stickig. Die Luft aus dem Atemgerät roch unangenehm künstlich. In dem dicken Anzug konnte Jan sich nur schwerfällig bewegen. In der Schule hatte er die Übungen damit gehasst und sich meistens davor gedrückt. Xenia stopfte ihn in die Schleuse. In diesen schmalen Raum passte kaum ein einzelner Mensch hinein. In Jan stieg ein Gefühl der Beklemmung auf. Er fühlte sich gefangen und glaubte, jeden Moment ersticken zu müssen. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, bis endlich der Druckausgleich hergestellt war und er die äußere Schleusentür öffnen konnte.
Soweit Jan sehen konnte, breitete sich das grenzenlose Nichts des Weltalls vor ihm aus. Er fühlte sich winzig und verloren in dieser unendlichen Weite. Es war das erste Mal für ihn, dass er in den Weltraum aussteigen sollte. Sein Herz klopfte und seine Handflächen wurden feucht. Am liebsten hätte er die Luke sofort wieder geschlossen, aber er wusste, dass es für ihn kein Zurück gab. Ohne wenigstens versucht zu haben, Dimitri zu retten, würde Xenia ihn nicht mehr ins Raumschiff lassen. Dessen war er sich sicher. Jan nahm all seinen Mut zusammen und kroch zögerlich ein kleines Stück hinaus.
Er holte die Fangleine hervor und betrachtete sie voller Angst. Diese dünne Schnur aus reißfestem Material war das Einzige, was ihn daran hindern sollte, in den Weltraum abzutreiben. Jan war sich bewusst, dass er keinen Fehler machen durfte, sonst wäre er ebenso verloren wie Dimitri. Sorgfältig befestigte er die Fangleine an einer Öse neben der Schleuse und prüfte gewissenhaft ihren festen Sitz. Das andere Ende der Leine war mit dem Gürtel von seinem Raumanzug verbunden, sodass er sich nicht allzu weit vom Raumfahrzeug entfernen konnte.
In einiger Entfernung sah er Dimitri, wie er hilflos durchs All trieb. Jan kletterte ganz hinaus und drückte sich von der Bordwand in Richtung des Jungen ab. Er verfehlte ihn um mehrere Meter. An der Fangleine zog sich Jan zurück zum Raumschiff, um es erneut zu versuchen. Diesmal gelang es ihm, den Stiefel von Dimitris Raumanzug zu fassen, aber er entglitt ihm. Durch den Stoß, den Jan bei seinem Misserfolg Dimitri gab, entfernte dieser sich schneller von dem Raumfahrzeug. Hastig hangelte Jan sich mit der Leine zurück. Er wusste, dass ihm jetzt nur noch ein einziger Versuch blieb, um Dimitri einzufangen. Wenn der scheiterte, war er für immer verloren. Danach wäre der Junge zu weit weggetrieben und außerhalb der Reichweite der Fangleine.
Wieder stieß sich Jan ab und zielte dabei genau. Er hoffte, dass die Leine lang genug war, um zu Dimitri zu gelangen, der inzwischen ein ganzes Stück weiter abgetrieben war. Auf direktem Wege näherte er sich dem Jungen, der ihn erwartungsvoll durch das Visier seines Helmes ansah. Kurz bevor er ihn erreichen konnte, spürte Jan, wie sich die Fangleine straffte. Blitzschnell streckte er den Arm aus und griff nach Dimitri. Im allerletzten Moment packte er ihn am Hosenbein des Raumanzugs.
Jan hatte es geschafft. Dimitri war in Sicherheit. Durch den Helm konnte er sehen, wie froh und glücklich der Junge über seine Rettung war. Nur der Rückweg musste bewältigt werden, was sich als nicht einfach herausstellte. Mit einer Hand hielt Jan Dimitri weiterhin fest, während er sich mit der anderen an der Leine zum Raumschiff zog. Das war anstrengender, als Jan erwartet hatte. Endlich hatten sie das Schiff erreicht. Jan half Dimitri in die Schleuse und schloss hinter ihm von außen die Luke. Während Dimitri geschleust wurde, musste Jan draußen warten, bis er an der Reihe war. Es schien ihm ewig zu dauern, bis er in die Schleusenkammer schlüpfen konnte.
Luft floss mit leisem Zischen aus den Reservetanks in die enge Röhre. Der Lukendeckel wurde über Jan geöffnet und Xenia zerrte ihn heraus. Sie nahm ihm den Helm ab und half ihm aus dem Raumanzug. Dann machte sie etwas, was Jan nicht erwartet hatte.
Sie klopfte ihm auf die Schulter und sprach anerkennend: „Gut gemacht, Jan.“
Es war das erste Mal, dass das jemand zu ihm sagte, seitdem er die Erde verlassen hatte. Das schönste für Jan aber war, dass er wusste, dass Xenia es nicht nur dahingesagt hatte, sondern es ernst meinte.
Dimitri hatte sich neben ihnen in der Schwerelosigkeit, die immer noch im Raumfahrzeug herrschte, ausgestreckt. Er sah erschöpft, aber glücklich aus.
Als er Jan erblickte, hob der den Daumen und sagte: „Danke, Jan! Ohne dich wäre ich gestorben. Du hast mich gerettet.“
Jan nickte kurz und entgegnete: „Ist schon in Ordnung.“
Xenia wandte sich Dimitri zu. „Hast du etwas ausrichten können?“
„Ja, ich habe das Leck abdichten können. Es müsste jetzt halten“, antwortete der Junge.
„Sehr gut, Dimitri. Dann sollten wir gleich ausprobieren, ob wir den Maschinenraum mit Luft fluten können“, freute sich Xenia.
Das Mädchen öffnete ein Ventil und alle hörten, wie Luft ins Maschinenabteil hineinströmte.
„Es scheint dicht zu sein“, stellte Xenia nach einer Weile zufrieden fest. „Wir können versuchen, die Tür zu öffnen. Haltet Abstand! Wir wissen nicht, was uns dahinter erwartet.“
Mit ihrer Körperkraft schob sie die massive Sicherheitstür auf. Dabei musste sie sich wegen der Schwerelosigkeit an der Wand abstützen. Neugierig beobachteten die Kinder, wie das stabile Türblatt zur Seite glitt. Es geschah nichts Ungewöhnliches. Alles blieb normal. Xenia nahm eine Handlampe aus einem der Werkzeugschränke und leuchtete damit in das Dunkel des Maschinenraums.
„Sieht gut aus, soweit ich das von hier erkennen kann“, sagte sie.
Das aschblonde Mädchen tastete sich vorsichtig in den Raum hinein und suchte mit der Lampe die Wände ab. Schließlich entdeckte sie in der Innenverkleidung eine kleine Beschädigung. Dahinter konnte sie das Loch in der Außenhaut erkennen, das Dimitri mit dem Gel zugestopft hatte. Das Leck war nicht groß und der geronnene Gelpfropfen hatte es sicher verschlossen. Als nächstes schaute sich Xenia das Antriebsaggregat an.
Sie untersuchte es gründlich und berichtete den anderen: „Der Antrieb hat keinen Schaden genommen. Nur eine Sicherheitsvorrichtung hat bei dem Druckabfall ausgelöst und ihn abgeschaltet. Ich werde jetzt versuchen, das Antriebsaggregat in Betrieb zu nehmen. Wir sollte aber die Tür schließen, falls doch etwas passiert.“
Xenia schob von innen die Sicherheitstür zu. Jetzt war sie allein im Maschinenraum. Sie wusste, wie gefährlich ihr Vorhaben war. Die Vorrichtung, die verhindern sollte, dass Antimaterie austrat, musste zurückgesetzt werden, damit sie den Antrieb starten konnte. Nochmals schaute sie alles sorgfältig an, ob ihr nicht doch ein Fehler entgangen war. Das Antriebsaggregat schien in Ordnung zu sein. Sie fand eine kleine Delle in der Abdeckung, wo das kosmische Geschoss aufgeprallt ist, nachdem es in das Maschinenabteil eingedrungen war, sonst nichts. Von dem Meteoroiden selbst war nur Staub übrig geblieben.
Zögernd nahm sie den Hebel in die Hand, um die Sicherheitseinrichtung zu lösen. Xenia hörte sich selbst atmen und kalter Schweiß sammelte sich auf ihrer Stirn. Tat sie das Richtige? Sie war sich bewusst, welche Gefahr der Umgang mit Antimaterie bedeutete. Ein kleiner Defekt, den sie übersehen hatte, und das gesamte Schiff mit allem, was sich an Bord befand, würde in reine Energie zerstrahlen. Ihr war ebenfalls klar, dass sie alle ersticken würden, wenn sie nicht bald handelte. Sie riskierte es und betätigte zaghaft den Hebel. Nichts geschah. Xenia war ratlos. War etwas nicht in Ordnung? Hatte sie etwas falsch gemacht? Nach einem kurzen Moment des Zweifelns erinnerte sie sich, dass der Griff längere Zeit niedergedrückt gehalten werden musste, und versuchte es noch einmal. Leise zählte sie: „Eins, zwei, drei, vier, fünf ...“
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