Mirwais trat mit seiner Kalashnikoff aus dem Haus, kurz darauf waren sie ebenfalls unterwegs, den Anjuman-Pass hinunter, nach Norden, begleitet von einem weiteren Geländewagen, mit zwei Soldaten von Commander Yahsin, als Schutz.
Auf der Hälfte des Weges kamen ihnen bereits die Soldaten von Escada entgegen, der erste Wagen fuhr wieder zurück zur Station auf dem Pass. Die Straße war mehr als nur abenteuerlich, oft nur ein mit Steinen abgestützer Eselspfad, der Fahrer lehnte sich öfter beim Fenster hinaus, um nicht über die Begrenzung zu fahren. Die tiefe Schlucht auf der einen Seite, der blanke Fels auf der anderen Seite, jederzeit bestand die Möglichkeit von Steinschlag, oder einem Abrutschen in die Tiefe. Verschiedentlich sah man auch Wracks von bereits abgestürzten Fahrzeugen im Abgrund liegen, sie hatten es wohl nicht geschafft. Gleichzeitig war Felsberg aber auch von dem atemberaubenden Panorama fasziniert, das sich bei jeder Biegung der Straße von Neuem anbot, in neue Varianten übergehend, neue Blickwinkel zeigend, ein wilde urzeitliche Landschaft. Hier in diesen Bergen soll, der griechischen Sage nach, auch Prometheus, wegen seiner fortgesetzten Gotteslästerungen, in die Felsen geschmiedet worden sein, bis ihm die Geier die Augen aushackten. Das Szenario schien durchaus glaubhaft, noch nie hatte er derartige Felsformationen gesehen. Es war verständlich, dass Menschen in dieser Landschaft Ehrfurcht vor der Größe der Natur empfanden, Felsberg kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.
Als ihnen eine Karawane von etwa zwanzig Kamelen, Koochies, traditionellen afghanische Nomaden entgegenkam, und kurz darauf noch eine Eselskarawane, wurde es zwischenzeitlich eng auf der "Straße". Die Tiere mussten sich eng an der Felswand an den beiden Fahrzeugen vorbeiquetschen, vor allem die Kamele brüllten erbärmlich, aber es gab keinen anderen Ausweg. Außerdem kannte er das schon, von den Kamelen, die brüllten nämlich immer und bei jedem geringsten Anlass, auch wenn man sie nur mit einem Strohhalm belud. Er grinste breit übers ganze Gesicht, Kamele waren schöne Tiere, er mochte sie besonders gerne. Er hatte sogar seine Fotokamera hervorgeholt, war kurzzeitig ausgestiegen, um ein paar schöne Bilder zu schießen.
Als das Gelände zunehmends flacher wurde, man endlich wieder in einem breiten Tal, dem flacheren Land entgegenrollte, wurde es sofort auch sofort wieder wärmer, die Sonne zeigte, dass der Sommer noch nicht ganz vorüber war.
"Wo fahren wir jetzt eigentlich hin ?" fragte Felsberg schlaftrunken, er war trotz der durchschüttelnden Fahrt ein wenig eingeschlafen.
Die Reise nach Badakhshan erwies sich als schwieriger als gedacht, tagelang schüttelte und rüttelte die Straße ihre Knochen durcheinander, man fuhr fast wie ferngesteuert, einfach nur weiter, bis an irgendwo ankam. Felsberg ahtte jegliches Gefühl für Raum und Zeit verloren, man hätte genausogut am Mond sein können
"Wir sind jetzt dann bald in Zibak, da pausieren wir einen Tag, dann geht’s nach Faizabad weiter, nochmals zwei Tage."
Es war dunkel, als sie ankamen und nach einem eher frugalen Mahl zeigte ihnen der lokale Commander, er hieß Mamajan, stolz noch die zwei anderen Gefangenen, die Komplizen des Buckligen, die ihnen auf ihrer heillosen Flucht nach Norden, quasi in die Arme gelaufen waren, nämlich in der lokalen Chaikhana, wo sie gerade seelenruhig Kebab mit Reis zu sich nehmen hatten wollen, es sei beim 'wollen' geblieben. Mamajan grinste übers ganze Gesicht.
Der hätte gut und gern der Geschichte aus "Tausend-und-eine-Nacht", nämlich "Ali Baba und die vierzig Räuber" entstammen können. Felsberg erinnerte der grobschlächtige Mann mit dem breiten Grinsen, sofort an diese Figur. Man konnte nicht sagen, ob sein Grinsen, das freundliche Lächeln eines urzeitlichen Drachens war, oder das Zähnefletschen eines Kannibalen. Aber er war gleichzeitig ein äußerst liebenswürdiger Mensch, anlässlich ihrer ersten Begegnung hatte er Felsberg mit der Leichtigkeit einer Puppe hochgehoben, hatte die immense Kraft angedeutet, die diesem Koloss innewohnte. Mirwais begrüßte er mit dem Repekt eines UKameraden auf gleicher Höhe, die Begrüßungsformeln hatten gar kein Ende mehr nehmen wollen.
Erst am nächsten Tag bemerkte er, dass der große Mann an einem Gehfehler litt, er humpelte leicht dahin.
Auf Felsbergs Nachfrage kam heraus, dass Mamajan und seine Männer, während der Belagerungen und den Kämpfen mit den Taliban, manchmal sehr lange Zeit, in Deckung, unter einer Brücke, im eiskalten Wasser stehend, im Hinterhalt gelauert hatten. Bis der Gegner reif war um angegriffen zu werden. Dabei hatte er sich ein Nervenleiden zugezogen, das ihn manchmal plagte.
"Das hier sind die wirklich harten Kämpfer… die Bedingungen, im Winter, ohne warme Bekleidung, nur mit Plastik-Schlappen, in Eis und Schnee, ohne Versorgung und Nachschub oder schwere Waffen… die mussten erst mühsam erbeutet werden… Jeder Panzer den du hier siehst, war einmal ein russischer Panzer und entweder wurden sie "erlegt" oder noch besser, man hat sie funktionstüchtig übernommen…nur die "Stinger"-Raketen kamen von den Amerikanern, mit denen man die Flugzeuge und Hubschrauber herunterholen konnte."
Commander Mamajan stand bei ihnen, als Mirwais ihm die Geschichte erzählte und untermalte dessen Erzählungen mit lautstarken, die Situation simulierenden Geräuschen. Booooooom… Tatatatatatatatata… Pfoooossshhhh… Pachhchaummmmm… jiuuuu, jiuuuu, jiuuuu… vorbeisausende Kugeln, Explosionen, Raketen, Maschinenpistolen, und Kanonendonner. Man musste es zur Kenntnis nehmen, es blieb einem gar nicht erspart, alles was diese Menschen kannten war Krieg.
Mamajan kämpfte bereits seit seinem fünfzehnten Lebensjahr aktiv mit. Seit damals, als die Russen seinen Vater und seine zwei älteren Brüder, vor den Augen der Familie und einigen zufälligen Passanten auf der Straße, einfach erschossen hatten. Als vermeintliche Terroristen. Man hatte sie erwischt, wie sie Zucker in die Tanks von russischen Fahrzeugen schütteten. Was auch tatsächlich dazu geführt hatte, dass ein Nachschubtransport von Kunduz nach Kabul, erst eine Woche später stattfinden hatte können. Außerdem, zur Rettung der Ehre der Mujaheddin, wie man die Kämpfer damals noch nannte, musste auch noch gesagt werden, dass jener besagte Transport, mit einem Duzend Lastwagen, hinter dem Salang-Pass, von Massouds Männern gnadenlos in den Abgrund gejagt worden war. Kein einziger Lastwagen hatte seinen Bestimmungsort erreicht. Die Russen hatten einen Heiden-Respekt vor dem jungen Anführer aus dem Panjshir-Tal, Commander Massoud.
Es gab keine Gesprächsrunde, die nicht irgendwann, im Laufe eines Zusammenseins, von diesem nun schon legendären Führer der "Nordallianz" erzählte, seine Heldentaten rühmte und seinen edlen Charakter pries.
"Massoouud Khan… Dost-e-Man- good frrend!", sagte Commander Mamajan, "er ist mein Freund!", als ob sein Idol noch am Leben wäre, schlug sich auf die Brust, dass es nur so dröhnte, kramte in einer seiner Brusttaschen und beförderte ein zerdrücktes Passfoto von Ahmed Shah Massoud hervor, hielt es ihnen triumphierend entgegen.
"Shaheed Massoud !", sagte er nochmals nachdrücklich – Massoud, der Martyrer, für sein Volk, ein wahrer "Ayaar", eine selbstlose idealistische Lichtgestalt des afghanischen Bürgerkrieges. Er war im Land geblieben, hatte gekämpft, während andere sich selbst bereicherten und ins sichere Ausland flohen.
Felsberg war der ständigen Beweihräucherung des Volkshelden Massoud schon etwas leid, es war einfach zuviel. Man begegnete dem Bild des allgemeinen Idols einfach überall. Keine Küche, kein Wohnraum, kein Laden, keine Straßenkreuzung ohne das Bild Massouds, groß oder klein.
"Ich weiß nicht, irgendwie kann ich's schon nicht mehr hören, es hängt mir etwas zum Hals heraus, es ist einfach zuviel !"
Читать дальше