Das Geschehen nahm denn auch eine ganz plötzliche Wendung, als man den Gefangenen auf ein Kommando hin, neuerlich auf die Beine hob und mit ihm nach draußen drängte.
Felsberg blickte Mirwais fragend an, aber Mirwais zuckte nur mit den Achseln.
"Das ist ein großer Glücksfall für Commander Yahsin… sie haben lange nach diesem Mann gesucht !"
"Aber er ist nur ein Krüppel, was wollen sie denn von ihm ?"
Mirwais lächelte ein grimmiges Lächeln und antwortete erst nach einer kleinen Pause.
"Ja, das ist zwar ein Krüppel, aber ein ganz berühmter, mörderischer Krüppel, heißt Wazir und er ist einer der besten Köche hier im Norden. Eines Tages, anlässlich eines Treffens, hat er da eine ganze Reihe von Generälen und Commander vergiftet, natürlich im Auftrag der Taliban, er ist ein vielfach gesuchter Mörder, man ist glücklich ihn gefangen zu haben."
"Er sieht aber gar nicht so aus, wie ein Taliban !"
"Jaa, weil sie sich mittlerweile alle die Bärte geschoren haben, sich ganz normal kleiden, sie verstecken sich, aber wir kennen alle ihre Namen !"
Felsberg stand auf, ging zur Tür, trat hinaus in die mondhelle Nacht. Man konnte die kleine Gruppe von Männern sehen, den Gefangenen zwischen sich, wie sie einen schmalen Pfad hochkletterten, hin, auf das Felsgrat zu.
Mirwais war unbemerkt neben ihn getreten, deutete zu den Soldaten hin und machte die unmissverständliche Geste des Halsabschneidens.
"Was, wollen sie ihm den Hals durchschneiden ?"
"Nein, vielleicht noch viel Schlimmeres… dieser Mann war auch Koch in verschiedenen Gefangenenlagern der Taliban. Man setzte ihn vornehmlich dort ein, weil er ganz besondere Vergnügen am Töten hatte, und er machte es immer sehr langsam, sodass die Menschen auch noch lange und sehr leiden mussten, er ist ein Tier !"
Felsberg war etwas geschockt, von der Selbstverständlichkeit, mit der hier über Leben und Tod entschieden wurde, wollte gerade zu einer Rede ansetzen, als ihm Mirwais vorab schon ins Wort fiel.
"Du musst noch viel lernen über Afghanistan, es ist nicht alles so einfach, wie es scheint, du darfst nicht mit "westlichem Bewusstsein" an das hier denken !"
"Aber es ist doch Mord mit Mord vergelten, da muss man doch was tun - ich meine, was ist mit Polizei, mit der Justiz ?"
"Mika, das ist Afghanistan, nach dreiundzwanzig Jahren Bürgerkrieg, wo zeitweise jeder gegen jeden gekämpft hat, diese Leute kennen nur Kampf, Waffen und Gewalt !"
Felsberg starrte in die Dunkelheit, aber die Gruppe der Männer war bereits aus ihrem Blickfeld verschwunden. Mirwais wollte ihn an der Schulter wieder ins Haus ziehen, aber Felsberg schüttelte ihn ab. Er konnte nicht verstehen, wie auch Mirwais dieses Verhalten einfach stillschweigend tolerierte.
Er stand noch einige Zeit da, horchte in die Dunkelheit der Schatten, aber da war nichts zu hören.
Mirwais unterhielt sich mit dem letzten Wachposten, der Koch brachte gerade frisch gebrühten Tee, als Felsberg wieder eintrat.
Mirwais winkte ihn heran, sagte ihm leise er solle sich zu ihnen setzen, den Erzählungen des Soldaten zuhören, es gäbe da einige Details, die er wissen sollte.
Er sprach weiter auf den Soldaten ein, hörte ihm wieder zu und fing erst dann zu Übersetzen an.
"Der Mann, der Krüppel, ist berüchtigt in ganz Afghanistan, sogar die Taliban hatten Angst vor ihm, weil man nie wusste, was er ins Essen tat… und wann er es tat, es gab da mehrere unerklärliche Todesfälle, auch in den Reihen der Bärtigen - Er verwendet eine einheimische Pflanze, deren Wirkung nur er kennt, das Gift ist völlig geschmacklos, wenn es mit dem Reis gekocht wird… Acht Männer, alle Commander der "Nördlichen Allianz" sind gestorben, bei einem Treffen, wo weitere Strategien besprochen hätten werden sollen - ein schwerer Schlag für die Freunde… man musste schnell reagieren - In den Gefangenenlagern gab es besondere Foltermethoden, für Menschen, die man ganz besonders hasste, Intellektuelle, Lehrer, Künstler… man spritze ihnen Tierurin ins Fleisch, in den Oberschenkel, oder den Unterarm, brannte Löcher ins Fleisch, mit Schweißbrennern… kannst du dir das vorstellen… das ist unbeschreiblich… wenn du zusiehst, wie deine Finger langsam gebraten werden – wenn diese Menschen Glück hatten, fielen sie in eine gnädige Ohnmacht, oder starben gleich, diese Art Schmerzen sind unvorstellbar - Und dieser Mann hat mit Leidenschaft mitgemacht, gefoltert und getötet, er ist ein vielfacher Mörder, hat auch alte Freunde von mir umgebracht - Er war auch in dem Lager, in das mein Vater verschleppt worden war, bei Bamyian, wo wir waren, mit Commander Habibullah… wo wir überfallen worden sind !"
Die Stille die im Raum herrschte war fast greifbar, Felsberg wagte vor Scham kaum den Kopf zu heben, dem Freund in die Augen zu blicken. Aber Mirwais lächelte ihn an, schlug ihm leicht auf die Schulter und goss frischen Tee nach.
"Was werden sie mit ihm machen… besser was haben sie mit ihm gemacht ?"
"Sie sind mit ihm zum Tangi-e-Pakikush gegangen, dem "Tor zum Paki-Tod"… ein Felsen der einige Hundert Meter steil abfällt… die Geier werden ihn fressen und wenn die Männer noch gnädig mit ihm sind, schießen sie ihm vorher noch in den Kopf, bevor er fliegen lernt… aber ich glaube nicht, dass sie gnädig mit ihm sind, er war es auch nicht und… eine der wichtigsten Regeln für dieses Land, höre mir genau zu… Afghanen vergessen nicht, und wenn es hundert Jahre dauert, sie warten ab, bis die Zeit reif ist."
Felsberg starrte Mirwais ungläubig an.
"Es gibt da diesen schönen Spruch, der genau für Afghanen sehr zutreffend ist – er lautet: Ihr mögt eine Uhr besitzen, aber wir haben die Zeit !"
Die Soldaten kamen polternd zur Tür herein, ein breites zufriedenes Lächeln im Gesicht, zurück von ihrer Aufgabe, und sie waren allein, der Gefangene war nicht dabei.
Felsberg blickte Mirwais fragend an, der aber zuckte nur mit seinen Schultern.
"Hast du nicht auch bereits auf Menschen geschossen, ist noch gar nicht so lange her, und ich glaube, du hast auch zumindest einen von denen getroffen !"
Felsberg wand sich innen und außen, druckste mit der Antwort herum, er hatte sich unlängst ja selbst auch gefragt, wie er denn mit der Tatsache zurechtkam, einen oder auch mehrere Menschen zu Tode gebracht zu haben.
"Ja-a, aber das war doch nicht dasselbe, da waren einfach ein paar Mörder hinter uns her, und sie schossen zuerst, ich habe mich nur gewehrt !"
"Siehst du !" triumphierte Mirwais, "Du bist auch nur ein Afghane… was glaubst du, denn was die Russen waren oder die Taliban, und die anderen Gruppen von religiösen Wahnsinnigen… die gab es überall, jede Ecke dieses Landes hatte seine eigenen religiösen Gruppen, und auch die kämpften alle gegeneinander… und sie waren alle nichts anders als Verbrecher, Betrüger, Mörder, Räuber, und Vergewaltiger, Verräter ihres Heimatlandes… die Taliban waren die Schlimmsten !"
"Mmmmh, ich verstehe schon… alles eine Sache der richtigen Betrachtung… das ist es ja, was mich nachdenklich stimmt… wie ich wohl reagieren würde, wenn mein Land gestohlen, meine Verwandten getötet, die Frauen vergewaltigt würden, ich weiß schon, alles relativ zur eigenen Betroffenheit !"
Mirwais stand auf, trat zu Commander Yahsin, sprach leise auf ihn ein, ein kurzes Gespräch entstand, in dessen Folge Mirwais dem Anführer anerkennend auf die Schulter klopfte und in lautes Lachen ausbrach, in das auch alle anderen Soldaten mit einstimmten. Noch immer grinsend wandte sich Mirwais an Felsberg, erzählte ihm, was er gerade erfahren hatte.
"Er ist nicht tot, sie haben ihn nicht umgebracht, sie haben ihn ausgezogen und an eine Felswand geschmiedet, nein, festgebunden und sie haben ihn mit Salz eingerieben… da oben gibt es eine kleine Weidefläche, mit Ziegen - sie werden ihn ablecken, bis er wahnsinnig wird - und wenn er diese Nacht übersteht, was wohl der Fall sein wird, dann bringen sie ihn nach Kabul… da gibt es einige Leute, die schon Sehnsucht nach ihm haben !"
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