Felsberg fühlte sich trotz allen Verständnisses, für die besonderen Umstände und die Situation, doch etwas erleichtert, als klar wurde, dass man den Mann den Behörden übergeben wollte. Aber der zweite Gedanke offenbarte sofort, was dem Mann möglicherweise in Kabul, im berühmt-berüchtigten Puli Charki-Gefängnis, erwartete, wo schon so viele ihr Leben gelassen hatten, dass man die Schreie und Klagen der Verzweiflung in jedem Ziegel des Hauses nur erahnen konnte. Vom Regen in die Traufe. Wahrscheinlich wäre er besser dran, hätte man ihn gleich standrechtlich erschossen. Aber darüber hatte er sich ohnedies keine Gedanken zu machen, das war wohl die Sache der Afghanen, sie mussten mit ihren Verbrechern selbst umgehen können.
Die Anstrengungen des Tages, zusammen mit der nervlichen Anspannung aus dem "Fall" des Gefangenen, zeigte seine Wirkung, Felsberg sank in die Polster zurück. Die anderen holten ein Brett hervor, spielten einige Partien Afghan-Carambol, der lokalen Billard-Variante, unter lebhafter Beteiligung der zusehenden Soldaten.
Die Petroleumlampe zauberte ein magisches Licht in den Raum, Felsberg glaubte, wieder in eine andere Zeit versetzt zu sein. Welches Jahrhundert schrieb man… und war das vor oder nach Christus Geburt… ??
Felsberg schaute der Runde fasziniert zu, das ganze Lautgemisch, der überall präsente Kassettenrecorder mit der überall gleich leiernden Musik. Offensichtlich waren die alle mit derselben leiernden Maschine kopiert worden, so dass ganz Afghanistan gar nichts anderes kannte, als diese leiernden Versionen ihrer Musik. Felsberg kicherte in sich hinein. Wahrscheinlich würde sie ganz schön blöd dreinschauen, wenn sie mal eine "normale" Version zu hören bekam, die eben nicht leierte, würden denken, dass da irgendwas nicht stimme.
Mirwais stieß ihn an, als er schon fast eingeschlafen war, bedeutete ihm, mit ihm zu kommen, sie schliefen dann im Nebenraum, wo zum Glück niemand Billard spielte.
"Übrigens, die waren zu dritt, zwei dieser Hunde sind entkommen, und sie sind in die Richtung geflüchtet, in die wir morgen weiter müssen, nach Norden !"
"Das sind ja nicht gerade erfreuliche Aussichten… Was sollen wir tun, zurückfahren ?"
"Nein… Yahsin fährt uns mit seinen Leuten voraus, und aus Zibak, kommen uns die anderen entgegen, da passiert gar nichts !"
Das letzte, was Felsberg noch hörte, war, dass einer der Soldaten in den Raum kam, seine Kalashnikoff ablegte, und sich ebenfalls zum Schlafen legte.
Er fühlte sich wie gerädert, als man ihn, im hellsten Sonnenschein, weckte, er hatte noch tief geschlafen, eine Folge der ständigen Belastung seiner Nerven. Er sagte dies auch Mirwais, nämlich, dass er baldmöglichst eine Ruhepause brauchte, sonst klappte er wahrscheinlich irgendwann einfach zusammen. Aber Mirwais lächelte nur.
"So schnell klappt man nicht zusammen… wenn man muss, und du musst jetzt einfach durchhalten, bis wir in Faizabad sind, in Badakhshan… dort machen wir dann Pause !"
Felsberg murrte zwar, erkannte aber auch, dass die Zeichen der Zeit anders standen.
Gerade brachten zwei Soldaten den Gefangenen den schmalen Pfad herunter, der Mann sah, zusätzlich zu seiner Verkrüppelung, auch sonst erbarmungswürdig aus. Er war nackt bis auf einen Lendenschurz, seine Haut war an mehreren Stellen abgeschunden, außerdem mehrere blau unterlaufene Stellen, die von Schlägen mit Gewehrkolben herrühren mochten, außerdem noch Bisswunden, von den Schafen, die wohl des Salzes wegen auch zugebissen haben mussten, einige der Stellen bluteten noch frisch. Felsberg betrachtete das grausame Schauspiel mit zusammengezogenen Augenbrauen.
Commander Yahsin befahl seinen Männern, den Gefangenen zum Fluss zu bringen, er solle sich reinigen, so könne man ihn nicht nach Kabul bringen.
Yahsin sah den besorgten Blick, den Felsberg zur Schau trug, wandte sich an Mirwais, sprach leise auf ihn ein, bis dieser sich endlich an seinen Freund wandte.
"Dieser Mann, dieses Schwein, war in einem der berüchtigtsten Lager, in Shakardara, einem Tal nördlich von Kabul, unter dem berüchtigten Taliban Commander Mullah Anwar – einer der Soldaten hat das gestern nachts noch erzählt – man hat dort Leute mit Säure verbrüht, sie mit Elektroschocks gefoltert, mit Draht um ihre Zehen, oder ihre Hoden, und dann ein Feldtelefon drangehängt, mit einer Kurbel, zur Stromerzeugung… die Usbekischen Gefangenen ließ man Höhlen graben, in die man dann Handgranaten warf… Massouds Anhänger wurden verkehrt rum aufgehängt und – im Winter - mit kaltem Wasser übergossen, am Morgen dann waren sie alle steifgefroren, mit Eiskrusten überzogen… die Hazaras wurden zusammengebunden, man hämmerte ihnen Nägel in die Köpfe, echte Mullahs, Geistliche, wurden auch gefoltert, alle Haare ausgerissen, ein Holz durch die Nase gezogen und wie Vieh herumgeführt… Menschen wurde, bei lebendigem Leib, Fleischhaken durch die Hälse gezogen, dann hing man sie auf, spielte "Hammelfleisch verkaufen !"
Felsberg hatte schon am Abend zuvor einiges an Grausamkeiten gehört, das buchstäbliche Entsetzen stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.
"Ich kann das nicht verstehen, wie Menschen anderen Menschen solcherlei Schweinereien antun können, das ist vollkommen unfassbar !"
"Das ist noch lange nicht alles… in Kabul, zum Beispiel, wurden willkürlich Menschen auf der Straße erschossen, aufgehängt, Frauen vergewaltigt, Mädchen entführt und vergewaltigt… und da gab es auch den berühmten "Tanz des Todes", den "Raqs-e-morda"… wir werden das nie vergessen - man hat den Leuten halb die Kehle durchgeschnitten und dann, vorher am Straßenrand vorbereitetes, heißes Öl in diese Kehle geschüttet… die Leute waren zwar schon fast tot, aber sie "tanzten" in ihrer Agonie quer über die Straße, bevor sie zusammenbrachen und diese Schweine haben dazu gelacht und Scherze gemacht, gejubelt !"
Felsberg sagte nichts mehr, hielt nur mehr erschrocken die Hand vor seinen Mund, unfähig auch nur einen Laut von sich zu geben.
"Das Schlimmste war, dass man diesen ungebildeten jungen Anhängern der Taliban, meistens junge Leute irgendwo vom Land, die nicht mal lesen und schreiben gelernt hatten, alles erzählen konnte, und die glaubten das dann auch alle… weil es ja ein Mullah gesagt hatte !"
Felsberg sah zu wie man den Gefangenen, immer wieder von Schlägen und Tritten begleitet, ins Haus schaffte. Felsbergs Sympathie war soweit abgesunken, dass er kein Mitleid mit dem Gefangenen mehr verspürte. Dieses Land hatte andere Gesetze, ganz andere, und sie waren alle bestimmt von Kampf, Gewalt, Leiden und Entbehrung, von zahllosen Opfern auf allen Seiten, eine endlose Kette der Erbarmungslosigkeit und blutiger Rache.
"Man erzählte ihnen, je mehr Feinde sie umbrächten, Ungläubige in ihren Augen, desto mehr würden sie belohnt, im Jenseits, im Paradies… Helden des Kampfes für ihre Form von Islam, durften jeweils zweiundsiebzig Jungfrauen als Belohnung erwarten, neben sonstigen, anderen Genüssen !"
Der Gefangene wurde herausgeführt, sah beinahe wiederhergestellt aus, wäre da nicht die verkrustete Platzwunde auf seinem nackten Kopf gewesen.
Ein Geländewagen kam die Bergstraße herauf, hielt vor ihnen an, drei Männer in Kampfanzügen sprangen heraus. Man begrüßte einander eher nur kurz, entgegen sonstiger Gewohnheit, aber auch das konnte auf den Gefangenen zurückgeführt werden.
Sie traten sofort an ihn heran, einer der Soldaten schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht. Der Gefangene fiel sofort auf die Knie, umfasste seinerseits flehentlich die Knie des Mannes, der ihn gerade geschlagen hatte, fing zu wimmern an. Aber der Mann trat ihn nur beiseite, zwei andere Soldaten rissen das heulende Bündel hoch, stießen den Gefangenen zum Wagen, stiegen mit ihm ein. Kurze Zeit darauf waren sie wieder verschwunden, brachten den erkannten Mörder seiner ungewissen, oder vielmehr gewissen Bestimmung entgegen.
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