„Was soll denn das? Ich kann mich immer noch alleine anziehen!“ Hilde Körner riss Ellen die Mütze aus der Hand und stülpte sie sich über. Sie straffte die Schultern, rückte den Anorak zurecht und wendete sich Lucas zu: „Sagen Sie mal, Herr von der Forst , was machen wir denn im Café? Bin ich etwa hier eingeschlafen?“ Sie sah Lucas streng an. „Müssten Sie nicht heute Fenster putzen?‘‘ Bevor er etwas erklären konnte, fügte sie hinzu: „Ich glaube, ich muss mich ein bisschen ausruhen. Komisch, warum bin ich bloß so müde?“ Lucas reichte ihr seinen Arm. Dann marschierten die beiden zügigen Schrittes an den geparkten Polizeiwagen vorbei Richtung Unverhofft.
„Was ist denn hier los, Herr von der Forst? Was macht die Polizei im Park?“
„Ach, da wurde jemand gefunden. Lassen Sie uns mal lieber schnell reingehen bei dem scheußlichen Wetter.“ Frau Körner hatte die Tote tatsächlich vergessen.
Die Heimleiterin schaute den beiden erstaunt entgegen. „Wo kommen Sie denn jetzt mit Frau Körner her?“
„Frau Sommerfeld, stellen Sie sich vor, Frau Wurzbach ist tot! Ich hab’ sie im Teich gefunden. Und Frau Körner stand auf der Wiese in der Kälte.“
Hilde Körner sah ihn verständnislos an, während die Heimleiterin die Hand vor den Mund schlug.
„Was? Doris ist tot?“ Langsam sank ihre Hand vom Mund an die Kehle. „Ich hab’ mich gefragt, was die Polizei da am Teich macht. Man sieht ja nichts von hier aus. Wieso ist denn die Doris tot? Die war doch heute Mittag noch putzmunter. In diesem Teich kann doch kein erwachsener Mensch ertrinken! Das Wasser ist doch höchstens einen Meter tief!“
„Ja, ich weiß auch nicht. Sie hat eine Wunde am Kopf. Es sah aus, als ob jemand sie geschlagen hätte. Vielleicht ist sie dann in den Teich gestürzt und ertrunken. Oder sie war gleich von dem Schlag tot und ist dann in den Teich gefallen. Ich weiß wirklich nicht ...“
„Die Wurzbach tot und ich soll im Park gewesen sein? Was erzählen Sie denn da?“ Die Seniorin funkelte ihn empört an und zerrte am Reißverschluss des Anoraks.
,,Nie und nimmer war ich im Park. Wir haben uns doch im Christgen getroffen.‘‘
Kopfschüttelnd half ihr die Heimleiterin, sich von Anorak und Mütze zu befreien. Während die alte Dame sich grummelnd in ihr Zimmer verzog, nahm Lucas die ausgeliehenen Kleidungsstücke entgegen.
„Frau Sommerfeld, ich muss schnell zurück. Die Polizei will mit mir reden. Die kommen bestimmt auch noch zu Ihnen. Wegen Frau Körner. Die könnte was gesehen haben. Aber ob sie sich erinnert? Im Park war sie völlig neben der Spur. Passen Sie ein bisschen auf, dass die Polizei sie nicht so hart rannimmt?“
„Ja, klar. Natürlich.“
Die Heimleiterin schüttelte immer noch den Kopf. „Die Doris tot, ich kann’s gar nicht glauben ...“
„Ich muss jetzt wirklich. Ich sollte eigentlich auf die Polizei warten. Und ach, die Fenster, das wird wohl heute nichts mehr.“
„Machen Sie sich da mal keinen Kopf, die sind auch nächste Woche noch dreckig. Jetzt laufen Sie mal schnell!“
Mit großen Schritten stürmte er zum dritten Mal an diesem Tag zum Café. Vor dem Eingang stand die junge Frau in dem groß gemusterten Mantel. Sie kämpfte mit ihrem langen grünen Schal, den ihr der Wind ins Gesicht geweht hatte. Als sie sich befreit hatte, schob sie kraftvoll die Tür auf. Er betrat kurz hinter ihr das Lokal.
Barbara, 26. September
Barbara stolperte auf dem Weg in die Küche über eine Umzugskiste. „Verflucht nochmal!“ Sie rieb sich ihr Schienbein. 46 m². Sechsundvierzig. Vorher hatte sie ein Haus gehabt. Ein ganzes Haus. Ein großes Haus, 260 m², mit einem noch größeren Garten. Vorne und hinten. Aus ihrer Küche hatte sie in den Garten sehen und gehen können. Jetzt hatte sie vorne einen Grünstreifen, auf dem die Hunde der Nachbarschaft kackten, und einen Baum, der ihr das Licht nahm, und hinten raus sah sie auf andere Häuser und in andere Leben. Aber es war partout keine andere Wohnung zu bekommen gewesen in Dortmund. Der Flüchtlingsstrom und vor allem die Zwangsräumung eines Hochhauskomplexes wegen Brandschutzmängeln hatten laut Aussage einer Dame von der Wohnungsbaugesellschaft zu einer enormen Wohnungsknappheit geführt. „Da nützt Ihnen auch kein gutes Gehalt, Frau Kommissarin. Es sei denn, Sie kennen den Faber. Sie wissen schon, der vom Dortmunder Tatort. Wenn Sie mir mit dem ein Date vermitteln könnten ...“ Dabei hatte sie verschmitzt gelächelt. Barbara war kurz davor gewesen, ihre Knarre rauszuholen, besann sich aber auf ihre guten Vorsätze, immer freundlich zu sein. Sieben Wochen später kam dieses Wohnungsangebot. Gut eine Woche, bevor sie ihren Dienst in Dortmund anfangen sollte. Das war wirklich knapp gewesen. Sie hatte mit gepackten Kartons auf Abruf gestanden, ihr kleiner Bruder Daniel war mit seinem LKW vorbei gekommen und seit gestern wohnte sie hier. Glücklicherweise konnte sie die Küche übernehmen. Außerdem war die Wohnung noch frisch renoviert worden. In fünf Tagen sollte sie ihren Dienst antreten. Ob sie es irgendwann bereuen würde, in die Großstadt geflüchtet zu sein? Aber in Altena konnte sie nicht mehr atmen. Trotz des vielen Grüns um sie herum. Nach der Trennung war sie erstmal übergangsweise wieder auf den Hof der Eltern gezogen und ihre Mutter hatte ihr ständig in den Ohren gelegen, dass sie selbst daran schuld sei, dass ihr Mann fremdgegangen sei. „Eine gute Frau, mein Kind, kommt ihrem Mann entgegen.“
Dabei war es ja nicht so, dass sie keinen Sex mehr gehabt hatten. Aber Sören brauchte immer schon Bestätigung und das nicht nur von einer Frau. Ihre Mutter fand das offenbar normal: „Die Männer sind so. Schau dir doch unseren Gockel an. So sind sie alle. Und verlassen deswegen die Hühner ihren Hahn?“ Barbara konnte manchmal nicht fassen, dass diese Person wirklich ihre Mutter war. Sie waren Universen voneinander entfernt. Was Werte anging, Gefühle, Menschlichkeit. Sie musste als Kind vertauscht worden sein.
Barbara merkte, wie ihr die Tränen kamen. Nein, bitte nicht heulen. Nicht heulen. Die Welt ist schön, alles ist gut. Du hast einen neuen tollen Job, eine wunderschöne Wohnung. Du bist 33 Jahre und gesund. Sie fing an zu heulen und warf sich auf die Matratze. Ihr Bett war noch nicht aufgebaut. „Niemand mag mich, ich bin hässlich, schon in der Schule war ich eine Außenseiterin ... ich werde als überarbeitete, hässliche, alte, mürrische Frau …“, weiter kam sie nicht, denn das Telefon klingelte. „Allenstein?“, dabei schniefte sie noch ein wenig.
„Frau Allenstein, alles okay mit Ihnen? Hier ist Markus Beilage. Ihr neuer Kollege.“
„Ja, alles okay, ein bisschen Schnupfen. Ich packe hier gerade noch alles aus, wissen Sie. Der Staub und so …“
„Aha. Ja ja, kenn ich, ich hab auch eine Hausstauballergie. Also, weswegen ich Sie eigentlich anrufe ...“
„Ich fange doch erst Sonntag an oder hab ich mich vertan?“
„Nein, nein, Sonntag. Aber, Frau Allenstein, wir haben schon heute eine Leiche. Und Ihr Vorgänger, den haben wir letzte Woche bereits in den Ruhestand verabschiedet und der Kollege …“
„Also gut, soll ich kommen?“
„Ja, bitte.“
„Kann mich jemand abholen? Mein Privatwagen steht zwei Blocks weiter. Ich hab gestern einfach keinen Parkplatz in der Nähe gefunden.“
„Aber natürlich. Ab der nächsten Woche können Sie, wenn Sie im Präsidium sind, auch versuchen, einen Wagen aus dem Fuhrpark zu ordern. Aber jetzt komme ich zu Ihnen. Wo wohnen Sie?" Barbara nannte ihm ihre Adresse.
„Alles klar, ich bin in 15 Minuten bei Ihnen.“
15 Minuten. Oje. Sie lief ins Badezimmer. Sie sah furchtbar aus. Die Wimperntusche war verschmiert. Sie sah an sich hinunter, ihre Kleidung war dreckig und verstaubt. Schnell wusch sie sich das Gesicht, legte wenigstens noch eine getönte Creme auf, zog einen grünen Pulli und eine Jeans aus der Kiste. Dann schnappte sie sich ihren großgemusterten bunten Mantel und ihren grünen Lieblingsschal. Eigentlich nichts für die Polizeiarbeit, aber egal. In dem Moment, als sie auf der Straße stand, trudelte auch schon der Streifenwagen ein. Es regnete in Strömen.
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