Frau Wurzbach schaute in die Runde. „Super, meine Herrschaften, fast überall leere Teller. Aber Sie wissen ja, Nachtisch gibt es erst, wenn alle aufgegessen haben.”
Almut verzog das Gesicht. „Finden Sie das lustig, Frau Wurzbach?“
„Sie nicht?“ Wieder erscholl ihr Lachen. Da bemerkte Hilde, dass Ruth zitterte. Tröstend legte sie ihr einen Arm um die Schultern.
„Du musst nicht aufessen, Liebes. Alles nur Quatsch und Schikane.”
Almut beugte sich vor. „Wenn du willst, Ruth, geh'n wir gleich in die Küche und machen dir ein schönes Rührei.”
Prima Idee! Patente Frau, diese Almut.
Ruth begann zu weinen. Vor Erleichterung, das merkte man. Trotzdem machte es Hilde wütend. „Seh'n Sie, was Sie da angerichtet haben, Sie blöde Kuh!”, schrie sie in Frau Wurzbachs Richtung. Die Tischrunde schaute erschrocken auf. Almut versetzte Hilde unter dem Tisch einen Tritt gegen das Bein. Aber Hilde schimpfte weiter. „Ist doch wahr! Eine Kuh ist sie. Dazu noch sadistisch. Wird man doch wohl sagen dürfen.”
Das Gemenge aus Gehässigkeit, Aufregung und Graupengeruch machte Hilde zu schaffen. Der Magen schickte erste Wellenbewegungen durch den Körper. Die Unterarme kribbelten wie tausend Ameisenbeine. Ihr Herz schlug bis unter die Hirnschale. Die Lunge nahm keine Atemluft mehr an. Speichelbildung unter der Zunge. Schleier über den Augen. Kalte Füße. Hitze im Hals.
Almut fasste Hilde an der Hand. „Komm, Hilde, wir gehen jetzt besser. Ruth, dich nehmen wir auch mit.”
Hilde wollte aufstehen, aber ihr gelang nur eine leichte Beugung über den Tisch. Die Beine machten nicht mit. Verweigerten ihren Auftrag. Um nicht zu fallen, stützte Hilde ihre Arme auf. Da war ihr, als geriete das Tischtuch in Bewegung. Als rutschte es zur Seite mit allem Geschirr darauf. Auch die Wände schwankten. Glitten von rechts nach links, drehten eine Runde und erschienen wieder im Blickfeld. Hilde fiel in ihren Stuhl zurück. Die Wurstreste auf ihrem Teller verschwammen zu braunen Wolkengebilden. Der Geruch von Ruths Graupenschleim überlagerte alle anderen Düfte im Raum, drang in Hildes Nase und löste in ihrem Mund übermäßigen Speichelfluss aus. Hildes Magen krampfte. Und die Speiseröhre auch. Nur jetzt nicht auf den Teller kotzen, dachte sie. Aber da war es schon passiert.
Lucas, 26. September
Mit Schwung bog Lucas von der Forst in Höhe des Parkplatzes vom Café Christgen in die lange Auffahrt zur Gemeinschaftswohnanlage. Er war spät dran, der Verkehr auf der B 236 war mal wieder das Letzte gewesen. Heute war die turnusmäßige Fensterreinigung der Senioren-WG, der Pflegeabteilung, des Gemeinschaftssaals und des Treppenhauses im Haus Unverhofft dran. Das würde ganz schön knapp werden, wenn er noch ohne zu hetzen ins Stadion kommen wollte. Vielleicht konnte er ja das Treppenhaus auch nächste Woche mitmachen, wenn er die Fenster in den Einzelwohnungen im Haus Freie Vogel zu putzen hatte. Frau Sommerfeld, die Leiterin der Pflegeabteilung und „Hüterin“ der Bewohner der Senioren-WG war da nicht so. Lucas grinste. Die war selber BVB-Fan und würde schon verstehen, dass er heute Abend zum Champions League Spiel gegen Real musste.
Während er die Einfahrt hochfuhr, drosselte er die Geschwindigkeit auf Schritttempo. Wie immer warf er sicherheitshalber einen Blick in die Parkanlage, die sich zwischen Café und Wohnanlage erstreckte. Auch wenn um diese Uhrzeit meistens nichts los war, konnte man sich doch nie sicher sein, dass nicht plötzlich ein alter Mensch oder ein Kind auf den Weg lief.
Da lag doch jemand im Teich! Lucas bremste so abrupt, dass er den Motor abwürgte. War das etwa die Wurzbach? Er sprang aus seinem Lieferwagen und war in wenigen Sätzen an dem kleinen Weiher. Tatsächlich, die Wurzbach! Ohne groß nachzudenken, umfasste er ihre Fußgelenke und zog sie soweit auf den frisch gepflasterten Weg, dass ihr Kopf nicht mehr unter Wasser lag. Dann packte er sie an Hüfte und Achsel und wuchtete den schlaffen schweren Körper auf den Rücken. Ein Arm schwang dabei herum und streifte seine Brust. Die Frau war unverkennbar tot. Aus und vorbei. Nichts mehr zu machen.
Lucas rief den Polizeinotruf, nannte seinen Namen, beschrieb die Sachlage und den Ort. Als er mit zittrigen Fingern sein Handy in der Brusttasche seiner Latzhose verstaute, entdeckte er durch die Büsche hindurch die alte Frau Körner. Sie stand mitten auf der Wiese zwischen Teich und Wohnanlage. Für das kalte Wetter war sie viel zu dünn angezogen.
„Frau Körner, was machen Sie denn hier? Haben Sie was gesehen? Wissen Sie, was da passiert ist?“ Lucas wies mit der Hand in Richtung der Leiche, aber er bekam keine Antwort. Als er zu ihr hinüberging, schien die alte Dame durch ihn hindurchzusehen. Sie war wohl in Gedanken woanders, wie öfter in letzter Zeit. Lucas gab es auf, sie weiter zu befragen. Kurz entschlossen legte er einen Arm um sie und lenkte sie am Teich vorbei zum Café Christgen , das direkt an den Park grenzte. Der Anblick der Toten rührte sie nicht. Wie in Trance schaute sie über die Leiche hinweg.
In der Notrufzentrale hatten sie ihm gesagt, dass er im Park auf das Eintreffen der Polizei warten sollte, aber Frau Körner musste schnellstens ins Warme. Vom Christgen aus würde er den Streifenwagen genauso gut kommen sehen. Das Café war mollig geheizt. Lucas brachte die noch immer schweigende Frau an einen Fenstertisch. Er erklärte der Inhaberin, was geschehen war, und bat sie, der Frau Körner einen heißen Kakao zu bringen. Für sich bestellte er einen Espresso. Erst jetzt fiel ihm auf, dass seine Hosenbeine und die Arbeitsjacke feucht geworden waren, vielleicht trockneten die Sachen schnell in der Wärme.
Durch die breite Fensterfront hatte Lucas den Park mit seinem alten Baumbestand und den Teich mit der Toten gut im Blick. Die alten Leute hielten Mittagsruhe, die Grundschul- und Kindergartenkinder ebenfalls, die älteren Schulkinder waren noch nicht auf dem Heimweg und die Angestellten aus dem nahen Gewerbegebiet, die regelmäßig im Café zu Mittag aßen, waren längst wieder an ihren Arbeitsplätzen. Die ruhigste Zeit war wirklich zwischen halb zwei und halb drei.
Lucas spürte Frau Körners kalte Hand auf seiner Rechten. Sie sah ihn liebevoll an. „Was für ein Glück, dass wir uns wiederhaben.“ Ihre ersten Worte nach dem Zusammentreffen am Teich freuten ihn. Endlich ging es der alten Dame besser. Doch dann verschwand das Lächeln aus ihrem Gesicht und sie wirkte ängstlich.
„Kurt, du musst mir was versprechen. Das musst du unbedingt. Wenn wir mal Kinder haben, sperren wir sie nie in den Keller. Hörst du? Niemals! Versprichst Du das?“ Nach einer kleinen Pause fügte sie hinzu: „Sonst kann ich dich nämlich nicht heiraten.“
Er begriff sofort, dass sie von alten Zeiten sprach. Nicht zum ersten Mal hielt sie ihn für ihren verstorbenen Mann. Manchmal verwechselte sie ihn auch mit ihrem Sohn Michael, der in Düsseldorf lebte. Beruhigend tätschelte er ihre Hand.
,,Hoch und heilig verspreche ich das. Nie und nimmer sperren wir irgendjemanden in den Keller!‘‘
Sie entspannte sich etwas, trank ein Schlückchen von ihrem heißen Kakao und verfiel wieder in Schweigen. Lucas löste vorsichtig seine Hand aus ihrer Linken, wobei sich der Ärmel ihrer Strickjacke verschob. Ihm schien, als hätte sie einen blauen Fleck am Handgelenk. Doch bevor er genauer hinsehen konnte, hatte sie schon beide Ärmel bis zum Daumenansatz heruntergezogen und hielt sie mit den zur Faust gekrümmten Fingern fest. Sie kreuzte beide Fäuste vor der Brust und zog die Schultern hoch. Einen Augenblick später ließ sie die Arme sinken, strahlte ihn an und erklärte, als ob sie lange und gründlich darüber nachgedacht hätte: „Das ist gut, Kurt. Dann heiraten wir auch bald.“
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