VII
– Feldlager Ben’Habin, Masfarrah-Wüste, aD 1204 –
Das Rasseln der schweren Ketten verstarb schlagartig, als die Reitgerte gegen die Brust des Jungen peitschte. Augenblicks färbte sich die von der Sonne verbrannte Stelle ocker und hinterließ einen flammenden Schmerz. Der Mann mit der Gerte bellte der in Ketten geschlagenen Gruppe Befehle ins Ohr. Diese gehorchte lethargischen Blickes und drehte sich nach links.
Erneut schmirgelte ein staubiger Windstoß über die ausgetrocknete Haut des braunhaarigen Buben, der nach der Schlacht bei Fleming hierhergeschickt worden war. Vergeblich leckte er sich die rissigen Lippen, ehe ihm der Stock unters Kinn klatschte. Er sollte den Kopf heben und hinsehen. Er sollte verfolgen, wie die schwarze Schar von Männern an der Spitze eines truhenbeladenen Fuhrwerks den salzverkrusteten Boden im Gleichschritt erschütterte. Wie deren im Takt pendelnden Waffen die Luft durchschnitten. Und ihre müden Augen Abgründe widerspiegelten, die tiefer und beängstigender kaum sein konnten.
Während das formale Auftreten einen disziplinierten Eindruck hinterließ, zeugten die vernarbten Gesichter doch von einschüchternder Verwegenheit. Sanguis hätte geschluckt, er hätte geweint, ja, er hätte sich bei diesem Anblick in die Hose gepinkelt. Doch es gab keinen Tropfen Flüssigkeit, der sich ihm noch hätte entsagen können. Dafür bebten seine brennenden Lippen. Ihm schlotterten die Knie und sein Magen krampfte sich zusammen.
Irgendwann kam die Formation mitsamt dem begleiteten Gespann vor einem mit Standarten und Wachposten versehenen Zelt zum Stehen. Der neben ihr marschierende Anführer ließ die Abteilung in einer Linie zu drei Gliedern antreten. Einem mit kurzgeschorenem Haar musste man kurzerhand unter die Achseln greifen. Weil ihm ein abgebrochener Pfeil im Bauch steckte, troffen zähflüssige Fäden Blut aus seinem Mund. Sanguis war sich nicht sicher, ob es behelfsmäßige Verbände oder bereits die Gedärme waren, die ihm blutumspült aus dem Unterleib quollen.
»Achtung«, brüllte der rothaarige Führer.
Schnurstracks nahm die Linie Haltung an. Ja, selbst der Verwundete ging in Grundstellung, indem er die helfenden Arme der Kameraden von sich abschüttelte. Tief einatmend streckte er den Rücken, bevor er den Kopf nach oben hob. Dem Jungen stockte der Atem.
In diesem Moment prasselte Sanguis‘ Nebenmann das Leder der Reitgerte ins Gesicht. So faltig die Haut vom Zusammenzucken auch war, riss sie doch einen blutenden Striemen hinein. Die Gefangenen sollten es der Abteilung gleichtun. Imitieren, was eine stolz geschwellte Brust und was steinharte Glieder waren. So rückte Sanguis seine Hacken aneinander und legte die Fäuste an die Hüfte, wie er es sehen, aber nicht fühlen konnte. Der in die Sonne gehobene Blick verwischte im Blinzeln.
Da endlich schlüpften zwei Personen aus dem Zeltinneren nach draußen. An ihrer Spitze erhaschte man einen großen Kerl mit gepflegtem, fingerlangem Schopf, der in einen rot-weiß geschacherten Waffenrock gekleidet war. Während sich diese Person, die Sanguis für einen Edelmann hielt, geradewegs dem vor der Front stehenden Rothaarigen näherte, blieb die andere nach einigen Metern stehen. Ein Mönch vielleicht, den der Junge an Fettleibigkeit und kreisrunder Tonsur, an wucherndem Vollbart und sonnenverbrannter Knollennase zu erkennen glaubte.
Der Vorausgegangene hielt erst deutlich später an. Ihm gebührte eine knappe Meldung des Formationsführers, ehe er, ohne die Abteilung rühren zu lassen, die Truhe auf dem Fuhrwerk aufschließen ließ. Ein kurzes, wie Sanguis meinte, goldenes Glimmen später gab sich der hineinfassende Blonde zufrieden. Insoweit, als dass er die Angetretenen endlich aus der Grundhaltung befahl. Während sich damit gleichermaßen die Sträflingswache aus der Anspannung befreite, bemühte sich Sanguis angestrengt darum, es ihr gleichzutun. Weil dessen Beine jedoch verkrampften, war er jenem ledernen Schlag ausgesetzt, der ihm ein blutendes Veilchen unter dem linken Auge bescherte. Eigentlich aber hätte ihm auch noch ein zweiter Schlag gebührt, wäre die Wache nicht unversehens zu dem Rockträger befohlen worden.
Für den Moment also konnte Sanguis aufatmen. Auch wenn ihm sein Peiniger noch im Weggang einen bissigen Blick zuwarf. Gerade in diese erzwungene Stille hinein platzte mit der Stimme des Nebenmannes plötzlich auch Neugier.
»Tut es sehr weh?«, nutzte der Junge zu Sanguis‘ Linken die seltene Gelegenheit zum Austausch.
Der Gefragte aber war angesichts einer drohenden Fortsetzung so eingeschüchtert, dass er nicht direkt antwortete. Schließlich hatte er die begründete Angst, von der wegtrottenden Wache gehört zu werden. Um dennoch nicht unhöflich zu wirken, drehte er seinen Kopf zur Seite. Allerdings bloß ganz kurz und nur soweit, dass sich der andere Knabe ein Bild von den Schmerzen machen konnte.
»Autsch«, kommentierte dieser wispernd, als er eine Ahnung bekam.
Der Misshandelte nickte so hastig, dass ihm die eigentliche Ungemach des Gespräches zu Gesichte stand. Der kaum ältere Junge an seiner Seite aber kümmerte das anscheinend wenig.
»Ich heiße Florus«, stellte sich dieser nämlich alsdann vor.
»Sanguis«, antwortete der damit Adressierte bündig, indem er sich – wahrscheinlich wieder aus Anstand – darauf einließ, Blicke auszutauschen. Obgleich für ihn des tränenunterlaufenen Auges wegen nicht auseinanderzuhalten war, ob Florus‘ Pupillen nun grün oder grau schimmerten.
»Ein komischer Name«, fragte der vermeintlich Buntäugige ungehemmt und ohne überhaupt auf die Rückkehr der Wache zu achten. »Woher kommst du denn?
»Crest«, entgegnete der Veilchenverzierte noch immer keinen Deut ausschweifender.
Dafür war seine gegen die Bauchdecke drückende Blase allemal zu präsent.
»Ich komme aus Got«, setzte Florus zur Erzählung an. »Dann sind wir beide …-«
»-… Frischfleisch.«
So schnell Sanguis auch seinen geschwätzigen Nebenmann mit seinem Ellbogen gewarnt hatte, vom schmerzenden Auge noch immer zum Blinkern gezwungen, vermochte er nicht zu sagen, wer genau sich ihnen jetzt näherte. Und schon gar nicht, ob man ihr Gespräch bemerkt hatte.
Erst einige bedrückende Wimpernschläge später herrschte Gewissheit. Dann nämlich als ein Schatten an ihnen vorbeihuschte und etwas völlig unerwartet zu Boden knallte. Noch dazu so dumpf, dass man sich das Zischen der Gerte, vom Aufprall geschluckt, ausmalen musste. Begleitet wurde der Fall von einem solchen Quieken und Johlen, dass es selbst ihnen, den nicht Betroffenen, leidvoll durch den Körper fuhr. Wo man sich das Geräusch des Reitstockes noch vor Augenblicken hatte vorstellen müssen, dirigierte sie jetzt ein Konzert aus Schmerzensschreien desjenigen Pechvogels, der sein leidliches Lied vom Wüstensand aus anstimmte.
Sanguis kniff nur mehr die Augen zusammen, versuchte die ausartende Gewalt zu ignorieren. Doch bevor es ihm gelingen konnte, die Marter auszublenden, war es der Geschlagene selbst, der sein Drangsal, von Qual und Härte gebrochen, zu einem mickrigen Wimmern, dann zu elender Stille verklingen ließ.
»Aufhören«, befahl eine herrische Stimme.
Hernach erst gehorchte der Stock.
»Heiliger Vater«, raubte es jemandem, der die Nachwehen des Schlaghagels erblicken musste, die Luft.
Augenblicke der Stille hielten Einzug. Irgendwann legte sich sanftes Dunkel auf Sanguis‘ geschlossene Augenlider.
»Teufel noch eins«, brach es fluchend aus einem weiteren hervor. »„Frisch“ ist untertrieben.«
Verwirrt von den vielen Stimmen wagte der braunhaarige Junge einen Blick.
»Wir nehmen, was wir kriegen«, kommentierte da gerade selbe Stimme, die der Reitgerte Einhalt geboten hatte.
Sanguis ordnete sie dem Edelmann zu, der inzwischen direkt vor ihnen stand. Der feine Sand unter seinen Stiefeln knirschte, kaum dass er die Reihe von Gefangenen abzugehen drohte. Wie ein Feldherr. Oder ein Metzger, der seine zum Ausbluten aufgehängten Schlachttiere musterte.
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