Wie angewurzelt bleibt er stehen und starrt auf den leeren Bürosessel. Was in aller Welt? Er schaut auf seine Uhr. Halb sechs. Sheryl wird großzügig dafür bezahlt, ihm täglich bis acht zur Verfügung zu stehen. Selbst wenn sie zur Toilette geht, ist es ihre verdammte Pflicht, ihr Handy griffbereit zu halten! Mit gerunzelter Stirn schaut er sich um. Ungeachtet ihrer Abwesenheit ist die Stille außerhalb seines Büros ungewöhnlich. Unheilverkündend. Er blickt durch die hohe Glastür zu den sechs patronenförmigen Fassadenaufzügen im Atrium des Wolkenkratzers. Alle Aufzüge stehen still. Niemand zu sehen. Keine hektischen Sekretärinnen, keine gestressten Geschäftsleute, keine Botenjungen.
Keine Wachmänner.
Hat es Feueralarm gegeben? Eine Bombendrohung?
„Hallo?“, ruft er ins Leere. „Sheryl!“
Die Wände schlucken seine Worte. Unbehaglich geht er den Korridor entlang, das Geräusch seiner Schuhe durch den Hochflorteppich gedämpft. Er drückt die Glastür auf und geht zur Brüstung des Atriums. Der Blick in den Abgrund ist so unangenehm wie die Leere des Gebäudes. Er drückt den Fahrstuhlknopf. Sofort hört er das vertraute Bling als eine der Türen aufgleitet. Also kein Stromausfall. Mit wachsender Unruhe betritt er die leere Kabine und rast in beinahe freiem Fall zur Lobby hinunter. Wie das übrige Gebäude scheint auch die Empfangshalle verlassen.
„Hallo?“, ruft Cannagan.
Nichts. Keine Menschenseele. Selbst der Portier ist verschwunden. Er eilt durch die Drehtür auf die Straße – und prallt zurück. Unter den hoch aufragenden Wolkenkratzern liegen der Broadway und die 56th Street menschenleer vor ihm. Schlimmer noch, kein Geräusch ist zu hören, nicht einmal ein Vogel. Der Geruch des Frühlings hängt in der Luft, aber auch etwas Anderes, das Cannagan nicht genau ausmachen kann. Der Verkehr auf der Straße ist zum völligen Stillstand gekommen. Rasch geht er an der endlosen Reihe leerer Fahrzeuge vorbei. Was zur Hölle ist hier los? Wo sind alle? Nichts bewegt sich – aber da ist ein Kribbeln in der Luft. Etwas Elektrisches. Eine Atmosphäre atemloser Erwartung.
Eine Vorahnung treibt ihn den Broadway entlang in Richtung Central Park, eine winzige Figur im Dämmerlicht zwischen den Hochhäusern. Als er die Ecke an der 58th Street erreicht, sieht er aus dem Augenwinkel eine Bewegung und bleibt ruckartig stehen. Ein kleiner schwarzer Junge, der zwischen zwei Autos hervorspäht. Der Knabe schaut Cannagan mit weit aufgerissenen Augen an.
„Hey, Kleiner!“, ruft Cannagan. In der geisterhaften Stille klingen seine Worte überlaut und seltsam hohl.
Der Junge glotzt ihn an, bleibt aber zwischen den Fahrzeugen.
„Weißt du, wo deine Mutter ist?“, fragt Cannagan. „Oder wo irgendjemand ist?“
Der Junge starrt ihn weiter an.
„Hey, Dumpfbacke, verstehst du, was ich sage?“
Cannagan überkommt das wilde Verlangen, den sprachlosen Lümmel durchzuschütteln, bis er die Lösung zu diesem Mysterium ausspuckt. Als spüre er die Gefahr, macht der Knabe auf dem Absatz kehrt und rennt davon.
„Verdammt!“
Fluchend geht Cannagan weiter. Die Wolkenkratzer versperren ihm die Sicht, aber der purpurrote Widerschein der Abendsonne lässt die Fenster hoch über ihm aufleuchten. Endlich erreicht er das südliche Ende des Central Park, wo vor der Schwarzen Welle hohe Bäume standen.
Er weiß nicht, dass er die letzten Schritte seines Lebens geht.
Auf der Wiese vor ihm steht eine unüberschaubare Menschenmenge – als hätten sich alle Bürger Manhattans auf dem Rasen versammelt, in einem Bund gespenstischer Stille. Alle – Männer, Frauen und Kinder – stehen ihm gegenüber und blicken nach Süden, ihre Augen auf einen Punkt irgendwo weit über Cannagan gerichtet – tausende von menschlichen Statuen, Augen und Münder aufgerissen, gelähmt im Angesicht von etwas, das zu enorm, zu gewaltig, zu unmöglich ist, um es zu begreifen.
Cannagan dreht sich um und blickt in den dämmernden Himmel über Manhattan. Schlagartig versteht er, dass er sich geirrt hat. Das Licht, das sich in den Fenstern der Wolkenkratzer widerspiegelt, ist nicht die Sonne. Er fühlt, wie tief in seiner Brust ein Schrei wächst, doch in der Gegenwart dieses überirdischen Spektakels bleibt er stumm, genau wie alle anderen.
Betäubt, die Augen von der Feuersbrunst erleuchtet, starrt er auf die Wolke flüssigen Feuers, die sich über den blutroten Himmel ausbreitet, die Stadt verschlingt, das Universum verbrennt.
Es ist das Ende des Tages.
Englischsprachige Originalversion (Day’s End) Copyright © 2016 Yves Patak
Deutschsprachige Version Copyright © 2018 Yves Patak
Alle Rechte beim Autor
Vervielfältigung, Verbreitung und sonstige Reproduktion sowie Übersetzung sind erwünscht und nach schriftlicher Genehmigung gestattet.
Als Arzt und Schriftsteller sehe mich als modernen Dr. Jekyll und Mister Hyde: Tagsüber Arzt und Hypnosetherapeut, schreibe ich nachts über die dunklen Seiten der menschlichen Seele und die unheimlichen Wesen zwischen den Dimensionen.
Mein Haupt-Genre ist der Mystery-Thriller.
Bisher erschienen:
„Der Screener“ (Teil 1)
„Tödlicher Schatten“
„Ace Driller“ (Teil 1: „Das Prometheus-Gen“)
„Himmel und Hölle“
„Null Bock auf Karma“
„Gespräche mit Luzi“
Geplante Projekte:
„Der Screener“ (Teil 2) – erscheint 2018
„Ace Driller“ (Teil 2: „Amok“) – erscheint 2019
Alle Bücher von Yves Patak auf:
www.patakbooks.com
www.lovelybooks.de
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