„Dämonen?“, wiederholt sie hartnäckig.
Nachgiebig erklärt Elin: „Gut und Böse, Schwarz und Weiß, Elben und Dämonen, ein jedes besitzt ein Gegenstück.“
„Ying und Yang“, flüstert Birgit.
„Sehr gut“, lobt die Elbe. „Zwischen rein und unrein existiert eine Vielfalt an Nuancen. Von weißen Seelen über hellgraue, graue und dunkelgraue bis hin zu völlig schwarzen Seelen. Lediglich den weißen Seelen kann Lichtmagie gegeben werden. Ein großes Geschenk!“
„Und ich? Besitze ich wirklich Lichtmagie?“
„Eine gute Frage. Wir werden sehen.“
Birgit lässt den Kopf hängen. Sie, eine 16-Jährige, passt unmöglich in die fantastisch klingenden Schilderungen der Elbe. „Dämonen!“ Nun verspürt sie keine Lust mehr zu fragen, warum die Elben überhaupt vor angeblichen Urzeiten auf die Erde kamen.
Eine Weile gehen die Zwei schweigend nebeneinander her, jede tief in eigene Gedanken versunken.
„Wohin bringen Sie – du mich eigentlich?“
„Zu einer bitterarmen Familie. Wir sind fast am Ziel.“
In der fremden Straße reiht sich ein altes, heruntergekommenes Mietshaus an das nächste. Rußschwarze Fassaden, abbröckelnder Putz, blinde Fensterscheiben. Aus den Wohnungen fällt kaum Licht auf die Straße.
In Birgit regt sich ein mulmiges Gefühl. Trotzig begehrt sie zu wissen: „Was soll ich hier?“
„Ich möchte, dass du ein Geschenk überbringst. Nutze die Gelegenheit gut, sieh genau hin, wie die Familie lebt.“
„Aber ich kenne die Leute gar nicht!“
„Das spielt keine Rolle“, gibt Elin zurück. Sie bleibt vor einer Haustür stehen, deren ehedem weißer Anstrich nur mehr zu erahnen ist.
Auf der untersten Stufe erscheint ein Karton.
„Hier.“ Die Elbe drückt ihn Birgit in die Arme. „Darin befinden sich Babynahrung und Stoffwindeln.“
Bevor das Menschenkind protestieren kann, drückt Elin auf den Klingelknopf von Papke. Schon schiebt sie die schleifende Haustür auf. Im Treppenhaus funktioniert höchstens jede zweite Lampe.
Elin gibt dem Mädchen einen kleinen Schubs. „Fünfte Etage.“
„Und Sie – du kommst nicht mit?“
„Selbstverständlich gehe ich mit, allerdings wird mich kein Mensch sehen.“
Kurz glaubt Birgit, dass ihr angesichts der verlangten Aufgabe plus unfassbarer Unsichtbarkeit ihrer Begleiterin die Nerven durchgehen. Mit etwas zu feuchten Augen atmet sie tief den muffigen, von Kohlsuppengeruch durchsetzten Mief des Hauses ein. „Was soll das alles nur? Bin ich doch verrückt?“ , spukt es durch ihren Kopf.
Die Elbe schweigt und wartet ab.
Endlich setzt sich ihr Schützling mit versteinerter Miene und zögerlichen Schritten in Bewegung, begleitet vom Knarzen ausgetretener Holzstufen.
Kaum eine Stunde später betreten Birgit und Elin wieder den Gehweg. Das erlebte Grausen und Elend steht dem Mädchen ins Gesicht geschrieben. Wortlos, mit gesenktem Kopf trottet es neben der Elbe heimwärts.
Dort angekommen, schlüpft Birgit ungewaschen ins Bett. Doch der ersehnte Schlaf will sich nicht einstellen. Vielleicht auch, weil Birgit schlimme Albträume über das gerade Erlebte befürchtet. So wälzt sie sich hin und her, steht alsbald auf und setzt sich zum Sterne gucken auf das Fensterbrett. Allein, selbst der Anblick in frostiger Nacht so rein funkelnder Gestirne kann die schrecklichen Bilder in ihrem Kopf nicht bezwingen.
Sechs Kinder lagen, notdürftig zugedeckt, auf drei Matratzen in einem kalten Raum mit groben, abgewetzten Dielen, der nur das Wohnzimmer sein konnte. Zumindest das Neugeborene lag bequem in seiner Wiege in der vom Kohleofen lauwarm beheizten Küche. Hier stank es nach Kohl, dreckigen Windeln und Alkohol. Die hagere Mutter mit ihrem verheulten Gesicht saß im schmierigen Kittel am Küchentisch. Ihr gegenüber lagen Kopf und Arme eines schlafenden Mannes, die Schnapsflasche noch mit einer Hand umklammert. Kein Kühlschrank, kein Elektroherd, von der Decke hing die nackte Glühbirne zwischen zwei Wäscheleinen, behängt mit zerschlissenen Kleidungsstücken. Das Baby begann zu wimmern.
Birgit versucht so heftig gegen die Bilderflut anzukämpfen, dass sie von einem Weinkrampf geschüttelt wird.
Eine sanfte Hand legt sich auf ihren Lockenkopf. „Geh zu Bett. Ich werde dir ein Lied vorsingen, damit du gut schlafen kannst.“
Schluchzend zieht sich Birgit die Decke bis unter ihr Kinn. Aus verquollenen Augen schaut sie die Elbe vorwurfsvoll an. Diese beginnt mit einer wundervoll weichen Stimme zu singen. Überrascht vernimmt das Mädchen eine zwar melodische, doch ihr gänzlich unbekannte Sprache. Langsam schließt Birgit die Augen und lauscht. Durch ihren Geist wandern so reale Bilder von blühenden Wiesen, wogendem Meer und tiefblauem Sommerhimmel, als wäre sie selbst dort. Mit einem Lächeln schläft das Menschenkind ein.
Der nächste Schultag nach halb durchwachter Nacht ist hart. Mittags steht mal wieder bloß Brot auf dem Tisch. Die anschließenden Schularbeiten wollen Birgit überhaupt nicht gelingen. Zwangsläufig muss sie nach dem abendlichen Küchendienst erneut ans Werk. Aber nun schießen ihr zwischen Gähnattacken halbwegs verdrängte Gruselbilder des Vorabends durch den Kopf. Mehr noch verstört denn wütend fegt sie ihre Schulsachen von der Arbeitsplatte.
„Es ist nur gut für dich, mit größerer Begeisterung zu lernen.“ Elin steht neben ihrem Hocker und blickt ernst auf das Mädchen herab.
Das fehlt jetzt gerade noch. Pampig erwidert Birgit: „Ja, ja. Das sagt meine Mutter ständig. Damit sie mich möglichst schnell wieder loswird.“
Die Elbe geht darüber hinweg. „Dich erwartet eine große Aufgabe. Soll sie etwa scheitern, weil du zu dumm bist, sie zu lösen?“
„Was kann ich für die dämliche Aufgabe. Ich habe sie mir ja nicht ausgesucht. Nicht einmal richtig verstanden habe ich das bisschen, was Sie mir davon erzählt haben!“ Birgit beschließt, die anwesende Elbe zu ignorieren. Betont langsam sammelt sie die Schulsachen vom Filzboden auf.
Das störrische Menschenkind entwickelt sich zum reinsten Fluch für Elin. Ein unbrauchbares Kind mit wundem Herzen. Dessen frühe und einzige Erinnerung daran, geliebt worden zu sein, vom Schmerz über den Tod seines Großvaters und dem Schock über seine anschließende Verfrachtung zu einer unbekannten Mutter überschrieben wurde.
Dennoch legt die Elbe eine Kehrtwende um 180 Grad hin. „Es tut mir leid. Eigentlich möchte ich mit dir über unseren gestrigen Ausflug reden.“
„Ausflug?“, protestiert Birgit. „Das war die Hölle!“
„Sprich nicht über Dinge, von denen du keinen Schimmer einer Vorstellung hast“, rügt Elin.
„Dann lass mich einfach in Ruhe!“, keift Birgit. „Ich muss lernen. Oder spricht plötzlich etwas dagegen?“
„Ich komme zurück, wenn du dich beruhigt hast.“
„Meinetwegen bleiben Sie ganz weg!“
Da ist die Elbe bereits entschienen.
Birgit schmeißt ihre aufgehobenen Schulsachen wieder auf den Boden. „Warum sind alle gegen mich? Warum darf ich mich nicht für den Rest meines Lebens in schönen Büchern vergraben? Warum?“ Entschlossen setzt sie sich auf ihr Bett und greift nach dem begonnenen Buch. Kurz flattert ihr durch den Kopf: „Das gibt morgen Ärger in der Schule. Ach, was soll’s.“
Am folgenden Abend, wie könnte es anders sein, taucht die Elbe auf. Birgit guckt sofort weg, ihre Lektüre ist gerade überaus interessant.
„Gefällt dir das Buch?“
Keine Antwort.
„Birgit.“
Ein Hauch von Verzweiflung in der Stimme lässt das Mädchen aufblicken. „Was?“
„Wollen wir es mit der Lichtmagie ein letztes Mal versuchen?“
Birgit springt auf die elbische Finte an. „Ein letztes Mal?“, echot sie bestürzter, als sie es sich eingestehen mag.
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