„Du, Kind, trägst Sternenlicht in dir.“
Birgits Verstand merkt auf. „Das ist bloß wieder ein Albtraum über meine doofe Mutter!“ Niemand sonst nennt sie ausschließlich Kind anstatt Birgit – oder, na ja, Igitt, in der Schule.
Wäre in dem Augenblick ein höchst selten vorkommender Halbelb anwesend, der ein winziges bisschen über Elben weiß, so könnte jener Halbelb das Mädchen warnen: „Elin verfolgt mühelos all die unausgesprochenen Gedanken in deinem Kopf.“ Doch niemand klopft an die Zimmertür, um Birgit über die peinliche Tatsache aufzuklären. Und die anwesende Elin hält derlei Offenbarung für überflüssig. Elben geben höchst ungern Geheimnisse preis. Auch sonst sind die Lichtgeschöpfe sehr zugeknöpft.
Gerade weist besagte Elbe mit ausgestrecktem Leuchtarm auf die noch herunter geklappte Arbeitsplatte. Buchstäblich aus dem Nichts erscheint dort im schemenhaften elbischen Licht ein Gegenstand. Birgit japst. Gleichzeitig flammt die Deckenlampe auf.
Mäßig erstaunt, da sie fest an einen Traum glaubt, fragt Birgit: „Ein Buch?“
„Ein Geschenk für dich.“
„Ein Geschenk? Für mich?“, wiederholt das Mädchen fassungslos. Selbst für einen Traum ist das ein unvorstellbares Ereignis. Ihre hartherzige Mutter macht Birgit grundsätzlich keine Geschenke, egal ob zum Geburtstag oder an Weihnachten oder auch nur ein Osterei. Deshalb wünscht Birgit sich von erhaschten Sternschnuppen manchmal Dinge wie einen kleinen Fernseher für ihr winziges Zimmer. Im Wohnzimmer, dem Herrschaftssitz ihrer Mutter, befindet sich selbstverständlich ein Fernsehgerät. Doch beides ist für die zähneknirschend geduldete Tochter tabu. „Geh sofort auf dein Zimmer“ und „sei leise“ sind die meist gehörten – halt, nein, es fehlt noch „räum die Küche auf“ – und beinahe einzigen Verlautbarungen der Mutter.
Die Elbe unterbricht ihre abschweifenden Gedanken. „Du solltest jetzt schlafen. Wir unterhalten uns morgen früh weiter.“
„Aber das geht nicht!“, protestiert Birgit viel zu laut. Erschrocken schlägt sie sich die Hand vor den Mund. Hoffentlich hat ihre Mutter das nicht gehört, sonst setzt es ein fieses Donnerwetter. Leise erklärt Birgit: „Samstags muss ich die gesamte Wohnung putzen.“
Doch die Elbe ist bereits verschwunden. Kurz starrt Birgit auf die Stelle ihrer Entscheinung. Dann siegt die Neugier. Rasch rappelt sie sich vom Fußboden auf und greift nach dem Buch. „Oh!“ Auf dem kostbaren weißen Ledereinband ist das Symbol Ying und Yang eingraviert. „Wie wunderschön!“ Behutsam streicht sie mit den Fingern darüber, bevor sie das Buch aufschlägt. Nichts als leere Seiten. „Etwa ein dämliches Kleinmädchen-Tagebuch?“ Also tatsächlich alles nur ein Albtraum. Tief enttäuscht geht sie zu ihrem viel zu kurz gewordenen Kinderbett, faltet ihre Beine unter die Decke und schläft umgehend traumlos ein.
Unsichtbar steht die Elbe Elin, einer Statue gleich, am Fenster und wacht über das auserwählte Menschenkind.
Kaum ist Birgits Mutter am Samstag pünktlich um 7 Uhr 30 zur Apotheke aufgebrochen und hat ihre Tochter daraufhin erleichtert tief Luft geholt, steht die Elbe weiß leuchtend in der Küche.
Zwar widerstrebt es Elin, die grobe Menschensprache auch noch laut auszusprechen. Elben unterhalten sich grundsätzlich von Gedanke zu Gedanke in ihrer eigenen melodischen Sprache. Dennoch sagt sie höflich: „Sei gegrüßt.“
„W-was?“ Birgit will nicht. Nicht in ihrer geliebten samstäglichen Ruhe gestört werden und schon gar nicht verrückt geworden sein. Sie knallt ihre Fäuste auf den Küchentisch. „Autsch!“ Wütend blickt sie die Elbe an. Wütend kann Birgit richtig gut – wenn auch nur innerlich, dafür hat ihre Mutter gesorgt. „Du bist bloß ein Albtraum. Ich will, dass er jetzt auf der Stelle endet.“
„Sei bitte nicht kindisch.“
Statt einer frechen Antwort springt Birgit auf, flüchtet ins Bad, verriegelt die Tür und setzt sich auf den Toilettendeckel. Drei Möglichkeiten stehen in ihrem aufgewühlten Kopf zur Auswahl: „Ich träume noch immer, ich bin durchgeknallt, Mutter hat mir etwas Giftiges in meinen Früchtetee getan.“ Beharrlich drängen Tränen aus ihren Augen hervor. „Ich will aufwachen“, schluchzt sie verzweifelt. Dickköpfig schiebt Birgit laut nach: „Kindisch benehme ich mich? Eben noch war ich ja auch ein Kind!“ In ihrem Hinterkopf erklingt: „Aber jetzt bist du 16 Jahre alt.“ Der schwergewichtige Gedanke löst etwas Neues in ihr aus. Stoisch wischt Birgit die Tränen ab, steht auf und geht, über sich selbst erstaunt, zurück in die Küche.
Die Elbe hat sich anscheinend keinen Zentimeter vom Fleck bewegt.
„Setz dich her und frühstücke. Du bist viel zu dürr.“
Birgit blickt in den leeren Brotkorb. Da nimmt sie eine Bewegung im Augenwinkel wahr. Mitten auf dem Küchentisch steht jetzt ein fremder Teller voll mit merkwürdigen Schnittchen. Fragend blickt sie die Elbe an.
„Das sind Sandwiches.“
Mit spitzen Fingern greift Birgit zu, knabbert ein Eckchen ab, kaut und schluckt mit Verwunderung hinunter. „Hmmh!“ Drei Happen und das erste Sandwich ist verputzt. Ungeniert greift sie zum zweiten, zum dritten. „Richtig satt machen Ihre Schnittchen aber nicht.“ Dabei angelt sie sich forsch das vierte von dem Teller. „Haben Sie das gezaubert? Können Sie auch leckeren Kakao zaubern?“
Ein großer Becher mit herrlich duftendem Kakao taucht vor Birgit auf. „Ich träume das.“
„Nein.“
„Dann bin ich wirklich verrückt geworden?“
„Nein.“
Ängstlich presst Birgit den dritten Versuch hervor: „Tot?“
„Nein.“
„Aber?“
Die Elbe setzt sich auf den zweiten Küchenstuhl. „Ein Teil deiner Seele stammt von uns Elben ab.“
„Das ist doch ein Märchen“, protestiert Birgit.
„Muss es deshalb falsch sein?“
Das Menschenkind schaut Elin unsicher an. „Märchen sind für Kinder.“
„Was du nicht mehr bist. Dennoch sitze ich hier ganz real.“
„Kein Traum?“
„Nein.“
„Aber – woher kann ich das wissen?“
„Was sagt dir dein Herz, dein Gefühl?“
„Mein …?“ Das ist die seltsamste Frage, die ihr je gestellt wurde. Verwirrt lauscht Birgit versuchsweise dem Gefühlschaos in ihrem Innern. Minuten verstreichen.
„Das macht mir Angst“, piepst sie kläglich. „Da ist eine Stimme oder ein Gefühl oder ich weiß auch nicht. Jedenfalls sagt die, Sie sind wirklich. All das hier ist wirklich.“
„Du musst deiner Herzensstimme reiner Wahrheit vertrauen. Sie kann dich leiten, dir helfen, wenn dein Kopf versagt.“
Für ein zustimmendes Nicken fehlt es Birgit noch an Mut und wirklichem Verstehen. Stattdessen fragt sie die mysteriöse Lichtgestalt schüchtern: „Wenn Sie so etwas Ähnliches wie ein Engel sind, wo sind dann Ihre Flügel?“
„Uns Elben wurden keine Flügel gegeben.“
In den blaugrauen Elbenaugen entdeckt Birgit eine frische Spur von Traurigkeit. Plötzlich ist ihr der Heißhunger vergangen.
Elin wechselt abrupt das Thema. „Deine lockigen Haare gefallen dir nicht. Richtig?“
Unbewusst zwirbelt Birgit seit Minuten mit dem Zeigefinger in ihren haselnussbraunen Locken herum. Pausenlos beneidet sie die Mädchen mit seidig glatten Haaren an ihrer Schule. Der Groschen fällt. In freudiger Erwartung reißt Birgit die Augen auf. „Könnten Sie …?“
„Geh zum Badspiegel“, befiehlt Elin.
Aufgeregt spurtet das Menschenkind ins Bad, guckt in den Spiegel und – „Iiiiih! So sehe ich mit glatten Haaren aus?“
Die Elbe tritt hinter Birgit und befindet trocken: „Ebenso gut könntest du dir gleich einen Fluch an den eigenen Hals wünschen.“ Scharf blickt sie Birgits Spiegelbild an. „Was lernst du daraus?“
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