„Ich möchte, dass du deine Erinnerungen an die Familie wachrufst.“
„Oh nein“, stöhnt das Mädchen.
„Bitte! Erinnere dich an all das Elend und überlege dir, womit du der Familie helfen möchtest.“
„Auch dem saufenden Vater?“
„Ein guter Einwand, den du dabei bedenken solltest.“
Mechanisch klappt Birgit das Buch zu. Helfen möchte sie der Mutter mit ihren sieben Kindern furchtbar gerne. Sie beginnt zu grübeln. „Viel Geld? Dann säuft sich der Vater zu Tode. Kleidung für die Kinder? Macht nicht satt. Ein Herd? Der würde bestimmt vom Vater verscherbelt.“
Aufmerksam verfolgt Elin die Gedanken und aufgewühlten Emotionen des Menschenkindes.
Birgit nagt an ihrer Unterlippe. Laut überlegt sie: „Eigentlich muss der Vater weg. Könnte man ihn wegwünschen?“ Unsicher sieht sie die Elbe an.
„Wäre das ein reiner Wunsch?“
„Nein“, gibt das Mädchen zu. „Aber alles andere, was mir einfällt, funktioniert auch nicht.“
„Fang mit einem kleinen Wunsch an“, rät Elin.
„So wie der Karton mit Babysachen?“
Die Elbe nickt.
„Und jetzt?“
„Erinnere dich an die lichtmagische Lektion.“
Birgit schließt folgsam die Augen und lehnt sich entspannt zurück.
Elektrisiert verfolgt Elin das Geschehen.
„ Licht, ich suche mein Licht“ , hallt der Ruf durch Birgits Geist. „Licht, wo bist du?“ Tiefer und tiefer versinkt sie in sich selbst. Viel Schwärze, durchzogen mit winzigen Lichtblitzen. „Da muss mehr sein. Ein Licht in meiner Finsternis. Wo nur?“ Die Finsternis zu ertragen, fällt ihr von Minute zu Minute schwerer. Sie fühlt sich orientierungslos. Panik flammt auf. „Wohin? Wo bin ich?“ Plötzlich vernimmt Birgit elbischen Gesang. Er flutet süß ihr Herz, schenkt frischen Mut. „Licht, wo bist du?“ Fernes Glimmen in der Finsternis wird zu einem feinen Lichtstrahl, dem Birgit entgegeneilt. „Ein See aus Licht!“ Pures Glück durchflutet sie und Birgit spürt, sie möchte es teilen. Ein gefüllter Karton für die Armen. „Au!“ Erschrocken reißt sie die Augen auf, starrt auf ihre schmerzenden Beine. Darauf thront ein sehr großer, schwerer Karton. Birgit verschlägt es die Sprache. Im nächsten Augenblick findet sie sich in einer innigen Umarmung von Elin wieder.
„Der erste Schritt ist vollbracht.“
Große Müdigkeit überfällt das Mädchen. All die Aufregung um den ersten lichtmagischen Zauber fordert ihren Tribut. Noch während Birgit die Augen zufallen, denkt sie voller Stolz: „Ich bin eine Zauberin.“
Allein, für Elben ist solche Art der Magie reine Spielerei zum gelegentlichen Zeitvertreib. Elin weiß, lange Jahre liegen vor dem Menschenkind, bis es wahre Lichtmagie beherrscht. Jahre, in denen das Mädchen niemals die Wahrheit erfahren darf. Niemals darf es auch nur den Hauch einer Ahnung spüren, dass ursprünglich Irma, ihre Mutter, auserwählt wurde. Irma verweigerte sich dem Licht und verschenkte, dem Wahnsinn nahe, ihre Seele an das Urböse. „Nachts, zur Dämonenzeit, steht die Verlorene gleich nebenan in ihrer Küche und braut tödliche Tränke.“ Die Elbe schüttelt es bei dem Gedanken. Für das uralte Rezeptbuch musste die Dorfhexe ihr Leben lassen.
Am Pfingstsonntag zaubert Birgit mit Leichtigkeit eine kleine Vase, gefüllt mit Nelken, auf den Frühstückstisch. Sie setzt sich hin, betrachtet strahlend ihr Werk und wartet auf die Mutter. Jeden Augenblick wird sie aus dem Bad kommen. Einmal mehr staunt Birgit über ihre magischen Fortschritte in den zurückliegenden Wochen. Ein oder zwei Mal konnte sie sogar Elin verblüffen.
Die tiefe Freude darüber, anderen Menschen mit ihren magischen Fähigkeiten helfen zu dürfen, heilt ihr wundes Herz zusehends.
Eine blitzartige Erkenntnis reißt das Mädchen so heftig wie eine Ohrfeige aus seinen umherschweifenden Gedanken. „Mutter wird fragen, woher die Blumen stammen! Sie gibt mir ja nie Taschengeld.“ Hektisch blickt sie sich nach einem Versteck um. „Nein, nein, nein!“ Birgit springt auf, flitzt mit der Vase los, quer über den heiklen Flur. Eben noch rechtzeitig verschwindet sie in ihrem Zimmer, bevor die Badtür aufgeht. Bei pochendem Herzen mahnt eine bedeutsame Lektion der Elbe: „Deine Magie darf niemals für andere Menschen erkennbar sein. Niemals!“
So schnell, wie sich das Malheur verflüchtigt, ist auch das Menschenkind über den Schreck hinweg. Auf dem Rückweg grinst Birgit schon wieder vergnügt. „Wenn Mutter wüsste, dass ausgerechnet ich eine Zauberin bin. Hihihi!“
Es ist längst Abend geworden. Elin zögert. Sie ringt mit dem Gedanken, sich ein letztes Mal zu zeigen. Seit mindestens einer Stunde steht sie im Kinderzimmer, ohne sichtbar zu werden. Deutlich spürt sie die wachsende Unruhe in Birgit. Deren Augen schauen immer häufiger von dem Buch auf, um nach ihr suchend durch den Raum zu schweifen.
„ Nein, sinnlos“ , beschließt die Elbe. „Ich zögere die unangenehme Angelegenheit nur hinaus.“
Ihre weisen Sternschwestern haben einen neuen Befehl erteilt. Sie wird ihn befolgen, wie üblich. „Je eher ich den eingeforderten Zauber vollführe, desto länger kann er über Nacht seine volle Wirkung entfalten.“
Sie strafft die Schultern, tritt an das Bett heran und schickt das ahnungslose Menschenkind in einen tiefen Schlaf des Vergessens. Die unreine Magie lässt Elins weiße Lichthülle gräulich flackern. Schließlich wendet sie sich bleichgesichtig und erschöpft ab. Sämtliche Geschenke, ausgenommen Birgits Tagebuch, verschwinden aus dem Kinderzimmer. Zuletzt nimmt Elin das Tagebuch an sich, in dem jede magische Lektion fein säuberlich notiert ist. „Das Schicksal mit seinen unvorhersehbaren Schwingungen ist und bleibt eine heikle Geschichte“ , seufzt die Elbe. Insgeheim hofft sie darauf, das Schicksal werde einen völlig neuen Weg gegen die Prophezeiung offenbaren und ihr so weiteren Kinderkram ersparen.
Eine ferne Stimme raunt: „Ihr werdet einander wiedersehen.“
Copyright © 2018 Daniela Zörner
Alle Rechte bei der Autorin
Anno 1963, je nach Betrachtung vor kürzerer oder eher längerer Zeit, wurde ich in Niedersachsen geboren. Von Kindesbeinen an war „Rastlosigkeit“ mein zweiter Nachname. Zwangsläufig zog und reiste ich nach dem Studium viele Jahre lang als Pressefotografin und Journalistin kreuz und quer durch Deutschland. Heute lebe ich als freie Autorin zusammen mit meinem Ehemann leidenschaftlich gerne in Berlin.
Als Autorin fühle ich mich in verschiedenen Genres zuhause: Urban Fantasy, Märchen für Kinder, Gegenwartsroman.
Bisher erschienen:
Urban Fantasy-Reihe:
„Die Geschichte der Lilia Joerdis van Luzien“: Band 1 „Elbenfürstin“, Band 2 „Elbensilber“, Band 3 „Elbenfluch“, Band 4 „Elbenschwur“
Gegenwartsroman:
„Blackcouch.com“
Kinderbücher:
„Das Kasematukel im Apfelbaum“, „Das Kasematukel und der Propftropffleck“
Geplante Projekte:
„Wunschzauberfluch“, Jugendbuch
„Herr Ichbinich schreitet von A nach Z“, Kurzgeschichten
Mehr Infos zu der Autorin und ihren Veröffentlichungen auf:
www.daniela-zoerner.de
www.lovelybooks.de
www.twitter.com/@ZoernerD
von
Yves Patak
Stirnrunzelnd liest Cannagan den Vertrag ein letztes Mal. Auf dem Ebenholzschreibtisch scheint das Dokument zu leuchten.
Schließlich nickt er und lehnt sich zurück. Er lächelt.
Ich gewinne. Wie immer.
Mit den Händen im Nacken blickt er durch das Panoramafenster auf Midtown Manhattan. Das weitläufige Penthouse im zweiundsechzigsten Stock eines der exklusivsten Gebäude der City ist sein sicherer Hafen, sein Stolz, seine Kommandozentrale. In der Stille hinter Fenstern aus Panzerglas, die jedem Hurrikan standhalten, entwarf er den Plan, der nun den Untergang seines letzten Rivalen einläutet.
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