„Guten Abend, Herr Klotzhofer. Hier ist Karparow. Meine Gratulation zur Eröffnung. Wie ist es gelaufen?“ Der gewisse Unterton in der Stimme des Anrufers ließ nichts Gutes ahnen. Hilfesuchend blickte der Direktor aus dem Fenster seines Büros zum angestrahlten Turm der Matthäuskirche, der sich eher sanft vor der grellen Lichtpyramide des Messeturms abhob.
„Danke, wir hatten viele namhafte Honoratioren zu Gast, und der von Ihnen empfohlene Kosakenchor hat einfach wunderbar gesungen und alle mitgerissen“, log Klotzhofer angestrengt.
„Schön, schön, und dieser verrückte Priester aus der Nachbarschaft, gibt der endlich Ruhe?“
Klotzhofer suchte nach einer passenden Antwort. „So gut wie. Wir haben ihn praktisch mundtot gemacht. Nur manchmal versucht er es noch mit seinen lästigen Anrufen.“
„Dann bringen Sie ihn gefälligst endgültig zum Schweigen! Sonst wird es Sie und Ihr Museum nicht mehr lange geben. Und ich lasse mich von euch nicht übers Ohr hauen. Wir hatten genau ausgemacht, welche Ikone zu welchen Bedingungen eingeführt und im Museum gezeigt wird. Diese Sauerei mit der Heiligen Barbara wird ein Nachspiel haben!“ Den letzten Satz konnte Klotzhofer kaum verstehen, da der Anrufer von lauter und dramatischer Orchestermusik fast völlig übertönt wurde.
„Wie bitte? Die Musik ist so laut. Was ist das für eine grausige Sinfonie?“, fragte Klotzhofer irritiert.
„Sie verstehen sehr gut, was ich meine. Ich höre gerade Modest Mussorgskijs Nacht auf dem Kahlen Berge. Dort, wo die Türken verloren haben. Das Leben ist eine einzige Schlacht, und glauben Sie ja nicht, Sie könnten gegen mich gewinnen.“ Dann machte es plötzlich Klack in der Leitung. Karparow hatte aufgelegt.
Der Direktor starrte ratlos auf die Wand und die Vitrine gegenüber. Dort hatte er einige Ikonen aus den Athos-Klöstern und Vortragekreuze der äthiopisch-koptischen Kirche vorübergehend untergebracht. Nun hieß es Nerven behalten. Klotzhofer musste erst mal mit dem ungebetenen Nachbarn vor Ort fertig werden, ehe er sich um die großen russischen Hintermänner kümmern konnte. Dann klingelte erneut das Telefon.
„Ja, hier Riestermann von der Pforte. Da ist Gregoriew für Sie vor dem Museum. Er will aber nicht reinkommen, sondern erwartet Sie lieber draußen, nahe beim Eingang.“
„Was soll denn der Quatsch?“, fuhr Klotzhofer den Pförtner mit echauffierter Stimme an. „Nun hat sich dieser Priester so unerhört laut angekündigt, dass ihn sogar die Sekretärin in meinem Terminkalender eingetragen hat. Und nun soll ich mich extra zu ihm herunterbemühen? Sagen Sie ihm, er soll gefälligst raufkommen.“
„Das geht nicht. Er hat mir nur kurz zugerufen und gesagt, er will Sie lieber draußen sprechen. Dann ist er um die Ecke gegangen.“ Klotzhofer überlegte hin und her. Nervös blickte er auf die Exponate schräg gegenüber. In Sekundenbruchteilen lief sein Gesicht feuerrot an, während er sich überlegte, wie weit es dieser Priester wohl noch mit ihm treiben wollte. Schließlich fasste er sich etwas, entgegnete jedoch immer noch mit hektischer Stimme: „Das ist doch unerhört. Nun gut, er will es offenbar nicht anders. Ich bin in wenigen Minuten unten. Dann kann der aber sein blaues Wunder erleben.“ Klotzhofer knallte den Hörer auf, sprang mit einem hastigen Satz auf und rannte an die Wand gegenüber, wo er in seiner Wut die Vortragekreuze auf der Vitrine unwirsch beiseiteschob. Dann eilte er zurück zum Schreibtisch, nahm den Mantel von der Stuhllehne und hastete die Treppenstufen hinunter.
„Schauen Sie, Ihr später Gast geht nun dort drüben auf und ab. Er scheint es genauso eilig wie Sie zu haben“, empfing ihn Eugen Riestermann an der Pforte. Dafür, dass der uniformierte Pförtner schon fast das Rentenalter erreicht und kaum eine wirkliche Gefahr zu melden hatte, funkelten seine stechenden Augen noch sehr aufmerksam.
Klotzhofer sah ihn unwillig an, dann schrie er zur anderen Seite:
„He, Gregoriew, warten Sie, ich komme rüber. Und dann reden wir mal Tacheles.“ Er war jedoch noch nicht auf der anderen Seite der Friedrich-Ebert-Anlage angelangt, als schon ein lautstarker Wortschwall auf ihn einprasselte. „Nein, nein, doch nicht hier. Das müssen ja nun auch nicht alle Leute mitkriegen“, versuchte Klotzhofer die wütende Stimme zu bändigen. „Gehen wir erst ein Stück und sprechen dann in einer ruhigen Seitenstraße.“
Doch Klotzhofers Bemühungen brachten nur kurzzeitigen Erfolg. Die beiden Männer fuchtelten schon wieder laut schwadronierend mit den Händen, als sie seitlich in die Ludwigstraße einbogen. Dort ging wie so oft zu später Abendstunde Gisela Bachmann mit ihrem ausgewachsenen Dobermann spazieren.
Als der schlanke und drahtige Rüde die beiden Streithähne auf sich zukommen sah, knurrte und bellte er laut, zerrte unwillig an seiner Leine. Für einen Moment befürchtete sein Frauchen, ihn nicht mehr zurückhalten zu können.
„Ruisch, Mäxche, ganz ruisch“, redete Frau Bachmann auf ihren Vierbeiner ein. Dann wagte sie einen Blick auf die beiden Passanten und runzelte zornig die faltige Stirn. „Sie sollte sisch was schäme, des arme Tier so uffzuresche.“
„Kümmern Sie sich gefälligst um Ihren eigenen Kram“, herrschte Klotzhofer sie an.
Gisela Bachmann nahm ihren Max und ging mit ihm weiter Richtung Mainzer Landstraße. Hinter ihr hörte sie das laute Brüllen, drehte sich noch einmal um und sah, wie Klotzhofer und sein lautstarker Begleiter hinter der Schranke der Einfahrt ins ehemalige Polizeirevier verschwanden. Sie band Max kurz an einen Laternenpfahl, ging vorsichtig ein paar Schritte zurück und hörte durch den Hinterhof Klotzhofers Stimme, die sich förmlich überschlug:
„Sie veeerdammtes Arschloch, daas wiird Iihnen noch leeidtun, Sieeee …“ Kurze Zeit später hörte sie das Klirren von Flaschenglas, das auf dem Straßenpflaster zersprang, und danach noch lautere Schreie.
„Um Gottes Wille, des gibt da drinne ja Mord un Todschlaach“, dachte Gisela Bachmann und rannte in Panik Richtung Mainzer Landstraße. Immer wieder drehte sie sich ängstlich herum: Wenn der zweite Mann nun herauskommen würde, könnte sie als einzige Zeugin ihr Testament machen. Doch nichts geschah. Dann nahm sie plötzlich einen schwarzen Schatten wahr und erschrak sich zu Tode. Doch es war nur eine aufgescheuchte Katze, die sich offenbar vor Max erschreckt hatte. Verzweifelt suchte sie in ihrer Manteltasche nach ihrem Handy. Als sie es endlich gefunden hatte, verständigte sie über den Notruf rasch die Polizei.
Schon wenige Minuten später erschien eine Polizeistreife mit Rettungswagen am Tatort. „Was sagten Sie, Frau Bachmann, hinter der Einfahrt zum alten Polizeipräsidium in der Ludwigstraße? Also in der Nähe des neu eröffneten orthodoxen Museums?“, wollte Polizeihauptmeister Helmut Schubert wissen.
„Ja, genau dort“, bestätigte Frau Bachmann und beruhigte Max, der noch immer aufgeregt bellte.
Was sich den Einsatzkräften im besagten Hinterhof bot, war ein Bild des Grauens. Blutüberströmt lag dort eine Person mit einer großen Wunde am Kopf. Die Sanitäter beugten sich über den leblosen Körper und konnten nur noch den Tod durch Erschlagen mit einem schweren Gegenstand feststellen. „Mensch, wer macht denn so was Schreckliches? Und das an unserem alten Arbeitsplatz?“, entfuhr es Schubert.
Das Polizeiteam inspizierte den Ort des Schreckens. Rund herum lagen Flaschen von nächtlichen Partys und die Scherben einer großen Flasche, mit der man die Person offenbar tödlich getroffen hatte. Auf den größeren Scherben waren noch Teile des Etiketts in kyrillischen Buchstaben zu erkennen. „Ganz offensichtlich so ein billiges Sonderangebot von russischem Wodka, wie man ihn in jedem Supermarkt kaufen kann“, dachte Schubert. Schon seit längerer Zeit war die Zufahrt in der Ludwigstraße neben dem Neubau des früheren Präsidiums, der nun an Partyclubs vermietet wurde, weder verschlossen noch irgendwie gesichert. Dies hing damit zusammen, dass die Stellplätze im Innenhof größtenteils extern vermietet wurden, bis der Eigentümer, das Land Hessen, eine neue Verwendung für den gesamten Komplex gefunden hatte. Die beiden Schranken waren zumindest für Fußgänger nur noch Attrappen. Jeder konnte nachts auch in die weiter hinten gelegenen Innenhöfe gehen, obwohl Teile davon in der Nähe der baufälligen Gebäude inzwischen wegen Einsturzgefahr abgesperrt waren. Trotzdem hatte man des Öfteren gehört, dass dort immer mal wieder große und lautstarke nächtliche Partys stiegen. Die vielen Flaschen und Zigarettenkippen lagen dort nicht von ungefähr.
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