„Irgendwas läuft doch da gründlich schief“, dachte Klotzhofer.
Das Patriarchat Moskau hatte ganz abgesagt, ein Sprecher aus dem Russischen Generalkonsulat traf verspätet ein, um die Glückwünsche seines Dienstherrn zu überbringen – unauffällig und diplomatisch. Klotzhofer streckte seine Hand etwas zögerlich aus, bekam erneut Zweifel: Warum mieden die führenden Köpfe fast alle seine Eröffnungsfeier, schickten bestenfalls ihre obersten Dienstboten vorbei? Etwas mehr Respekt hätte sich der Herr Direktor doch erbeten. Dann endlich drängte ein prominenter Herr aus dem Frankfurter Geschäftsleben nach vorne. Zunächst noch etwas vorsichtig, als wollte er mit seiner markanten Adlernase die Luft prüfen. Dann streckte er dem Direktor seine Rechte entgegen: „Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Museum, Herr Klotzhofer. Wir freuen uns auf eine lange und ertragreiche Zusammenarbeit.“ Es handelte sich um Tamas Temaschwili, den Inhaber einer bedeutenden kaukasischen Import- und Eventfirma in Frankfurt. „Hinter mir sind noch ein paar Geschäftsfreunde, die Ihnen gratulieren wollen.“
Klotzhofer nahm die gratulierenden Hände dankbar entgegen. Darunter auch die von Gerhard Kayser, dem recht fülligen Präsidenten der Albinia-Kulturstiftung und Vorsitzenden der gleichnamigen Firma, die für die Versicherung der wertvollen Ikonen verantwortlich war. Endlich schienen es ein paar Besucher wirklich ernst mit ihrer Präsenz und ihren Komplimenten zu meinen. Frankfurt, die Stadt der Finanziers, der Stiftungen und Mäzene. Klotzhofer hatte immer gewusst, dass man ihn hier nicht im Stich lassen würde.
„Ach ja“, ergänzte Temaschwili, „viele Grüße soll ich Ihnen auch noch von unserem Freund Gudensberger bestellen. Er hat es leider nicht geschafft, ihm ist heute noch ein Termin in Chicago dazwischengekommen.“
Kaum hatte der Kosakenchor aus Sankt Petersburg seine letzte Einlage aus einem Kirchenlied und einem Volkslied zum Besten gegeben, als sich plötzlich eine dunkelhaarige Gestalt mit ergrautem Vollbart durch die Menschenmenge schob und den Weg Richtung Mikrofon bahnte. Zunächst fiel sie keinem auf. Dann ließ der untersetzte Mann seine volle Stimme ertönen: „Herr Klotzhofer, an diesen Ikonen klebt Blut. Zwanzig Mönche wurden alleine für die Heilige Barbara dahingemetzelt, ein wunderschönes Kloster brutal in Brand gesteckt. Diese Ikone hätte Russland niemals verlassen dürfen. Ein Skandal für dieses Museum, und Sie haben alle meine Warnungen voller Selbstherrlichkeit in den Wind geschlagen ...“
„Siiie, wagen Sie es nicht ...!“ Klotzhofer wollte sich gerade gehörig steigern, als Friedrich seinem Chef ein Handzeichen gab und nun selbst versuchte, den Störenfried beiseitezuschieben. „Was fällt Ihnen ein, verschwinden Sie gefälligst, wie konnten Sie überhaupt hereinkommen?“ Ein hilfesuchender Blick Richtung Pförtner. „Ja, ja, ich verstehe schon, einem orthodoxen Geistlichen kann man nicht so einfach den Zutritt verwehren. Aber Sie hatten keine Einladung. Und Sie sind hier absolut unerwünscht!“
Doch so einfach gab sich der Eindringling nicht geschlagen. „Für alle, die mich nicht kennen, ich bin Vater Gregoriew, Kranken- und Obdachlosenseelsorger der Russisch-Orthodoxen Kirche in Frankfurt. Herr Klotzhofer, Sie glauben, Sie sind mit ihren falschen und pseudoseriösen Zertifikaten von irgendwelchen gekauften Gutachtern auf der sicheren Seite. Wir aber glauben all diesen selbst ernannten Kunstexperten kein Wort mehr! Klotzhofer, die Sache ist noch nicht zu Ende. Wir werden uns sprechen, und das schon in wenigen Stunden. Dann wird abgerechnet. Ich komme wieder!“ Gregoriew ballte vor Wut seine Faust, so dass er eher einem Revolutionär als einem Geistlichen glich. Seine Augen glühten, er biss sich sichtlich auf die Lippen, um nicht noch Schlimmeres auszusprechen.
„Hören Sie gefälligst auf, den Direktor zu beschimpfen und zu bedrohen“, ergriff Friedrich wieder das Wort. Tatsächlich gelang es dem sonst eher schüchternen Mann, in Sprache und Gebärden über sich selbst hinauszuwachsen. Nach außen hin stellte er sich vor Klotzhofer. Doch in Wahrheit hegte er stille Absichten, die alles andere als solidarisch waren, wie sich später herausstellen sollte.
Endlich verließ Gregoriew das Museum, rannte wie vom Leibhaftigen getrieben über den Hof – und warf dabei fast zum zweiten Mal die Bilder am Porträtstand um. Die korpulente Bertha Teschke konnte sich gerade noch in Sicherheit bringen. „Könn‘ se nich uffpassen?“, rief sie ihm zornig hinterher. Während einige Passanten den eigenartigen Tumult beobachteten, konnte Klotzhofer drinnen die Leute notdürftig beruhigen. „Ist schon in Ordnung, das war nur ein kleiner und kurzer Zwischenfall. Dieser Irre versucht mir schon die ganze Zeit, das Leben schwer zu machen“, rief er sichtlich atemlos. Und fügte dann etwas ruhiger hinzu: „Entschuldigen Sie bitte nochmals, das ist mir alles furchtbar peinlich! Der Fall ist ja geklärt, selbst Juristen haben sich eingeschaltet. Ein Geistlicher, der sich von ein paar Schmierfinken und Paparazzi aufwiegeln lässt, das ist einfach lächerlich.“
Klotzhofer verließ das Rednerpult und setzte sich wieder in die vorderste Reihe der Aula. Links und rechts klopfte man ihm auf die Schulter, auch von den angrenzenden hinteren Reihen kamen einigermaßen tröstende Worte. Dann aber meldete sich eine vorsichtige Stimme zu Wort.
„Entschuldigen Sie bitte, Herr Direktor, mein Name ist Kuhn. Ich gehöre dem evangelischen Freundeskreis der Matthäuskirche an. Ich würde Ihnen gerne helfen, mit Gregoriew ein sachliches und klärendes Gespräch zu führen. Die Russen sind wie unsere Nachbarn, wir kämpfen gemeinsam für unsere Kirche. Deshalb kenne ich die dortigen Priester recht gut. Es wäre doch in unser aller Interesse, diese unschöne Angelegenheit aus der Welt zu schaffen.“
„Sicher, sicher, da haben Sie natürlich Recht“, räumte Klotzhofer ein. „Aber seien Sie unbesorgt: Wenn Gregoriew später wirklich noch vorbeikommt, wird er sich wohl wieder beruhigt haben. Wenn er sich bei mir entschuldigt, finden wir bestimmt eine akzeptable Möglichkeit, um die Sache zu bereinigen.“ Das schien Klotzhofer wenigstens zu hoffen. Mühsam versuchte er, sein Lächeln wieder aufzusetzen und sich durch ein paar Small Talks Ablenkung zu verschaffen. Doch seine Stimmung war sichtlich dahin. Und auch bei einigen Gästen schien bestenfalls noch eine sehr gezwungene Freude aufzukommen. Das wollte sich der Direktor freilich nicht antun. Eine gute Dreiviertelstunde harrte Klotzhofer noch auf dem Empfang aus. Dann ließ er sich entschuldigen. Einen wichtigen Außentermin, wie er sagte. Und so musste schließlich Friedrich gegen 18.30 Uhr die letzten Gäste verabschieden.
Es war gegen 19 Uhr, als eine Straßenbahn Klotzhofer aus seinem Nickerchen emporschnellen ließ. Der monotone Rhythmus der Waggons, die über das Gleisbett und den vom Frost aufgeplatzten Asphalt holperten, hämmerte in seinem Schädel, da ihn schon seit Stunden heftige Kopfschmerzen quälten. Kein Wunder nach diesem anstrengenden Tag, der noch lange nicht vorbei war. Es hatte sich ja noch Vater Gregoriew angesagt, den der Direktor freilich mit sehr gemischten Gefühlen erwartete. Immerhin: Seinen lautstarken Auftritt im Museum hätte er ihm bei aller orthodoxer Verbohrtheit niemals zugetraut. Diesen Geistlichen musste man also tatsächlich ernst nehmen. Würde er den Priester wenigstens so weit beruhigen können, dass dieser künftig seine peinlichen Besuche unterlassen würde? Und könnte ihm dieser evangelische Kuhn dabei wirklich eine Hilfe sein? Auf diese Fragen hatte Klotzhofer derzeit keine Antworten parat.
Dann klingelte plötzlich das Telefon. Klotzhofer schaute verstört auf das Display: Der langen Nummer zufolge kam das Gespräch offenbar aus Sankt Petersburg. Wenigstens die wichtigen russischen Vorwahlnummern hatte sich Klotzhofer im Laufe seiner vielen Verhandlungen mit den dortigen Kunsthändlern gemerkt. Irritiert hob er den Hörer ab.
Читать дальше