1 ...6 7 8 10 11 12 ...15 „Nein, das ist keine gute Idee. Ich werde mich mit Zorbas auf den Außenbereich und den Hauptverdächtigen konzentrieren. Du kannst im alten Präsidium völlig unvoreingenommen ohne subjektive Erinnerungen ermitteln. Ich komme dann später hinzu. Gute Nacht.“
Noch bevor die Spurensicherung ihre Arbeit in der Ludwigstraße zu Ende bringen konnte, setzte ein ungemütlicher Regen ein, der die Arbeit behinderte. Als die Kollegen alle fertig waren, konnte Pokroff freilich noch lange nicht an den Heimweg denken. Natürlich hatte er sich schon beizeiten über die Zuständigkeiten in der russischen Gemeinde informiert. Dabei war ihm der eifernde Priester, der sich schon mal mit der Nachbarschaft anlegte, keineswegs entgangen. Nun war es nicht allzu schwer, die Namensfetzen, die die alteingesessene Frankfurterin in der Aufregung aufgeschnappt hatte, entsprechend zuzuordnen. Igor, Gregor, Gregory, Gregoriew – schließlich klang das doch alles recht ähnlich.
Pokroff verständigte sofort sämtliche verfügbaren Einsatzkräfte und schrieb den russischen Priester zur Großfahndung aus. Mit zwei weiteren Beamten fuhr er dann zu Gregoriews Dienstwohnung, die schräg gegenüber von der Matthäuskirche im angrenzenden Westend lag. Doch dort war er nicht. Derweil suchte Zorbas mit den übrigen Beamten die Kirche und das gesamte Gelände zwischen Sakralmuseum und Hauptbahnhof ab.
Es war eine typische frühe, wenn auch zu milde Winternacht im östlichen Gallus, unweit des Bahnhofs. Hier und da verließen ein paar späte Kneipengänger ihre Stammlokale und verloren sich im Dunkeln der wenig einladenden Straßen: hier und da mal ein neues, aber steriles Hotel, ansonsten vernachlässigte, zum Teil mit Graffiti beschmierte Fassaden alter Klinkerbauten, die auch schon bessere Zeiten gesehen hatten.
Sofern man dort ein paar fremdsprachige Äußerungen aufschnappen konnte, waren es meist Äußerungen in italienischen Dialekten. Sie stammten von Gastarbeitern der ersten Generation, die seit Jahrzehnten in Frankfurt lebten und kaum noch einen Bezug zur Dichtersprache von Petrarca oder Boccaccio hatten. Zwar war es auch für italienische Verhältnisse bereits ziemlich ungemütlich, doch die Afrikaner, die meist aus Äthiopien und Eritrea kamen und diese Gegend in den Sommermonaten oft in Scharen bevölkerten, waren außerhalb ihrer Stammlokale so gut wie gar nicht mehr zu sehen.
Pokroff ordnete an, zwei Zivilfahrzeuge zur Beobachtung in der Friedrich-Ebert-Anlage zwischen Sakralmuseum und Matthäuskirche aufzustellen. Und zwar so, dass die Polizisten in Zivil die Dienstwohnung im Westend ebenso einsehen konnten wie das Eingangstor zwischen Museum und Kirche. Er selbst stellte seinen Wagen in der Ludwigstraße ab, damit er mit seinem jungen griechischen Kollegen auch das evangelische Gemeindehaus und den dortigen Eingang zur Kirche überblicken konnte. Doch zunächst stieg Pokroff aus und ging unruhig die Mainzer Landstraße auf und ab. Mittlerweile war Zorbas zurückgekommen und erklärte sich nur widerwillig bereit, sich die Nacht zusammen mit seinem Chef um die Ohren zu schlagen. „Für waschechte Südländer ist es immer noch kalt genug, und die Afrikaner frieren sich selbst bei fünf Grad womöglich ihr Hinterteil ab“, murrte er unwillig vor sich hin.
„Aber wenigstens so ein Russe müsste doch abgehärtet genug sein, um irgendwo in der Stadt sein Gemüt abzukühlen“, ermutigte ihn Pokroff. „Er wird hier bestimmt bald irgendwo erscheinen. Dann können wir ihn festnehmen. Den Täter zieht es immer an den Tatort zurück. Kein Geistlicher dieser Welt verzieht sich nach einer solchen Tat einfach in sein Kämmerlein und betet still vor sich hin.“ Plötzlich tauchte ein dunkelhaariger Mann mit Bart an der Straßenecke auf. Instinktiv spannte Pokroff seine Muskeln an, wollte schon die Kollegen in der Friedrich-Ebert-Anlage herbeirufen. Auch von der Bundespolizei am Hauptbahnhof konnte man zur Not schnell Verstärkung einfordern. Doch dann kam der Mann näher, so dass eine Straßenlaterne sein Gesicht für einen Moment anleuchten konnte. Das Haar war eher dunkelbraun als schwarz und er hatte bestenfalls einen Dreitagebart. So übermächtig auch Pokroffs Wille nach einem schnellen Zugriff war, hier würde er ganz sicher einen Unschuldigen erwischen.
Pokroff versuchte sich zu beruhigen und zu seinem Auto zurückzugehen. Allerdings sehr langsam und nachdenklich. Dann dachte er nochmals über den Abend und den ganzen Vorfall nach. Er hatte also Recht behalten. Iwan Gregoriew und Werner Klotzhofer, das konnte sich auf Dauer nicht vertragen. Wie sehr wünschte sich Pokroff nun jenen letzten freien Tag zurück, an dem er bei strahlendem Sonnenschein am Museum für Osteuropäische Sakralkunst vorbeigefahren war. Jenen Moment, als er versuchte, diese letzte Ruhe vor dem Sturm noch einmal zum Auftanken zu nutzen. Nun merkte er erst, wie sehr er diesen letzten freien Tag wirklich gebraucht hatte.
„Verdammt, nichts zu sehen von unserem verrückten Priester“, brummte Zorbas. „Wer weiß, ob der sich nicht längst mit dem Nachtzug nach Moskau abgesetzt hat.“
„Bestimmt nicht. Dann hätte ihn die Bundespolizei im Hauptbahnhof längst geschnappt“, versicherte Pokroff. „Der hat sich noch schnell und unauffällig Richtung Innenstadt verdrückt, bevor hier unser Großaufgebot angerückt ist. Aber spätestens zur Frühmesse muss er zurückkommen und hofft sicher, dass wir dann nicht mehr da sind. Und dann schlagen wir zu.“
„Und bis dahin?“
„Bis dahin, mein Lieber, sind wir beide zur Nachtwache eingeteilt. Selbst nach 0 Uhr kann der Feind noch von allen Seiten angreifen. Du setzt dich ans Steuer. Ich hoffe, du hast dir einen spannenden Krimi mitgebracht. Denn jetzt bin ich erst mal mit dem Ausruhen dran.“
„Habe schon verstanden. Aber Sie hatten immerhin Urlaub“, konterte Zorbas schlagfertig.
„Von wegen. Ich hatte Bildungsurlaub, den ich auch noch nutzen musste, um Bad und Küche generalstabsmäßig einzurichten.“
„Noch so’n kalter Joke, und ich spuck Eiswürfel“, frotzelte Zorbas unwillig zurück. „Und das mitten in dieser lausigen Dezembernacht.“ Die coolen Jugendsprüche der 80er Jahre hatte Zorbas noch ganz gut drauf, auch wenn er damals gerade erst nach Deutschland gekommen war.
Die beiden Polizisten schlugen die Autotüren zu, harrten mit zurückgeklapptem Sitz missmutig der Dinge, die da kommen mochten. Stunden später wurde Pokroff von seinem vertrauten Surren alarmiert. Der Oberkommissar drückte die Krone seines Armbandweckers hinein, blickte auf den matten Schein der Leuchtziffern und schaltete die Beleuchtung seiner Funkuhr ein, die griffbereit auf dem Armaturenbrett lag. Hier wie da war es genau 6 Uhr. Pokroff drehte an der Lünette seiner Poljot-Weltzeituhr, bis die Markierung der mitteleuropäischen Zeit richtig stand. Sechs Uhr in Frankfurt und 9 Uhr in Moskau, und nichts rührte sich weit und breit. Pokroff schaute zum Haus mit der Dienstwohnung von Gregoriew. Doch alles blieb dunkel, auch wenn auf der Straße allmählich der Berufsverkehr startete.
Die Armband-Weckeruhr der ruhmreichen Kosmonauten bildete für Pokroff eine kulturelle Brücke nach Russland. Das Emblem, das ein stilisiertes Aeroflot-Wappen mit angedeuteten Tragflächen zeigte, war des Kommissars ganzer Stolz. Zuhause hatte er noch eine zweite Uhr mit Zwiebeltürmen auf dem Zifferblatt. Nein, Pokroff war nicht der Typ, der mit Uhren, Schmuck oder teuren Autos angeben wollte. Deshalb trug er am Handgelenk nur eine billige Funkuhr. Doch die Ästhetik der Mechanik mit ihrem sanften Ticken, die hatte es ihm angetan.
Unwillkürlich drehte sich Pokroff noch einmal zur Seite. Als er die Augen erneut aufschlug, blinzelte er der Sonne entgegen, die sich zwischen einer ansonsten fast dichten Wolkendecke zeigte. „So ein Mist“, brummelte er. „Hoffentlich haben wir ihn jetzt nicht verpasst!“ Pokroff schob seine Decke beiseite, in die er sich notdürftig eingewickelt hatte. Eine kleine Pause mit halb geschlossenen Augen konnte man einem Hauptkommissar im Dienst gerade noch durchgehen lassen. Pokroff sprach dann immer von Augenpausen. Aber die Augen mussten sich auch beizeiten wieder öffnen. Sonst könnte es brenzlig werden. Was auch für Zorbas galt, der inzwischen ebenfalls aufgewacht war und unwillig vor sich hin gähnte.
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