Doch keiner hatte eine vernünftige Antwort darauf. Wie sich herausstellte, hatte keine der Wachen Waffengeklirr, Schreie oder andere ungewöhnliche Geräusche gehört. Ausnahmslos schüttelte jeder ratlos den Kopf.
„Wahrscheinlich gab es überhaupt keinen Kampf“, meinte Tjerulf. „Vielleicht sind sie in einen Hinterhalt geraten und hatten keine Gelegenheit zur Gegenwehr. Dann hat der Gegner schnell und erbarmungslos zugeschlagen. Das kann uns nur recht sein. Du wirst dich erinnern, Meneas, dass die Geister in der Nacht, als ich überfallen wurde, ebenfalls keine Laute von sich gegeben haben. Im Keller in Guff-Mat herrschten andere Verhältnisse. Merkwürdig ist nur, dass die Kleidung der Schwarzen Geister auf einem Haufen liegt, als hätte sie jemand absichtlich aufgetürmt und das kann erst nach Sonnenaufgang geschehen sein. Vorher konnten sich die Geister noch nicht vollends aufgelöst haben. Und sie in nur teilweise aufgelöstem Zustand zu berühren, wäre gefährlich.“
„Warum ist das gefährlich?“, fragte Anuim.
„In Auflösung befindliche Geistkörper dieser Art entziehen demjenigen, der sie berührt, Lebenskräfte. Das schwächt ihn und verzögert ihre Auflösung.“
„Und das wäre sicher nicht gut.“
„Nein, das wäre sicher nicht gut. Und wir könnten sie vielleicht noch erkennen, wenn auch verschwommen.“
„Könnte es dann nicht sein, dass sie schon in der vorletzten Nacht überfallen wurden?“
„Das wäre für mich die einzige vernünftige Erklärung, obwohl die Kleidung dafür eigentlich zu frisch aussieht“, meinte Tjerulf.
Erest fühlte sich äußerst unwohl bei der Vorstellung, dass er beinahe auf den oder die Gegner der Geister gestoßen war. Seiner Meinung nach mussten sie nicht unbedingt auch ihre Freunde sein.
„Hm, das verstehe ich nicht“, meinte Meneas. „Haben wir nicht schon mehrmals getötete Schwarze Geister berührt, ohne irgendeine Wirkung zu spüren? Und jetzt plötzlich soll das gefährlich sein.“
„Nicht erst jetzt ist es gefährlich“, erwiderte Tjerulf. „Doch die Gefahr geht von den Körpern aus, nicht von ihrer Kleidung. Und die Körper hat offensichtlich keiner von uns angefasst.“
„Das kann sein, aber du hättest uns warnen können. In Zukunft werden wir uns vorsehen.“
„Ja, es war ein Versäumnis, es nicht zu wiederholen“, gab Tjerulf zu. „Aber erinnere dich an den Hinweis, den ich dir und dem Wirt des »Schwarzkittel« gab. Den hast du wohl vergessen.“
Meneas nickte.
„Doch, jetzt erinnere ich mich wieder. In der Aufregung jener Nacht habe ich anscheinend nur mit einem halben Ohr zugehört.“
„Verständlich.“
Tjerulf hatte sich in die Hocke gesetzt und untersuchte die Überreste. Er zog noch zwei Schwerter hervor. Das war dann jedoch alles, was er an Bemerkenswertem fand.
„Tja“, meinte er, „dieses Mal keine Botschaft. Es waren drei.“
„Sie müssten irgendwo in der Nähe ihre Pferde haben, wenn sie nicht laufengelassen wurden“, sagte Valea. „Lasst uns nach ihnen suchen. Vielleicht finden wir einen Hinweis darauf, wer uns vor dem Überfall gerettet hat.“
„Einen Augenblick noch“, sagte Meneas. „Tjerulf, von welcher Beschaffenheit sind diese Schwerter?“
„Von guter, warum?“
„Dann werde ich eines an mich nehmen“, entschied Meneas. „Solange mein eigenes Schwert unbrauchbar ist, kann ich mich damit behelfen. Die Lichtschwerter sind mir unheimlich. Außerdem habe ich ein herkömmliches Schwert eher kampfbereit als eines, an dem ich vorher noch die Klinge einschalten muss, auch wenn sie dann vielleicht wirkungsvoller ist.“
„Sicher, das kannst du tun“, meinte Tjerulf. „Suche dir das Beste aus. Dort liegt auch eine Schwerttasche. Aber schneide dich nicht. Die Klingen sind sehr scharf.“
„Ich hoffe nur, dass sie sich später nicht auch auflösen“, sagte Meneas.
„Keine Sorge, das habe ich noch nicht erlebt“, erklärte Tjerulf.
„Könnten sie vergiftet sein?“, fragte Erest.
Wie Meneas die Lichtschwerter, so waren ihm die Geisterschwerter unheimlich. Aber Tjerulf versuchte, ihn zu beruhigen.
„Nein, ich glaube nicht. Zumindest kann ich mich an keines erinnern, das vergiftet war und ich habe bereits einige kennengelernt. Trotzdem kann es nicht schaden, wenn Meneas die Klinge in dem Teich dahinten reinigt.“
„Was ist jetzt?“, fragte Valea. „Gehen wir ihre Pferde suchen?“
„Das wird wenig Sinn haben“, meinte Tjerulf. „Für gewöhnlich sind die Reitpferde dieser Geister von der gleichen Art wie ihre Reiter, nämlich auch Geister. Ihre Körper lösen sich ebenfalls bald auf, wenn sie nicht mehr gebraucht werden. Wir werden kaum noch etwas von ihnen finden.“
„Na gut, aber vielleicht gibt es noch mehr von den Geister-Kriegern. Mir wäre wohler, wenn wir feststellen könnten, ob diese hier die Einzigen waren.“
Da war Tjerulf ziemlich sicher, aber sie hatten Zeit und vielleicht fanden sie etwas über ihren geheimnisvollen Beschützer heraus, obwohl das genauso unwahrscheinlich war. Trotzdem stimmte Tjerulf zu.
Alle bis auf Meneas schwärmten aus. Es regnete immer noch und ihre Suche verlief eher lustlos und führte sie auch nicht weit von ihrem Lager weg. Wie Tjerulf vermutet hatte, blieb sie auch erfolglos. Schließlich brachen sie die Suche ab, denn noch mehr Zeit zu verlieren, erschien ihnen sinnlos.
Meneas war allein zu dem kleinen Tümpel gegangen, der sich nicht fern von ihrem Nachtlager befand. Es war ein guter Vorschlag von Tjerulf gewesen, die Klinge abzuwaschen. Wer wusste schon, wer noch Opfer dieser Waffe geworden war. Er kniete ans Ufer und tauchte das Schwert unter Wasser. Vorsichtig und bemüht, sich nicht zu schneiden, fuhren seine Finger auf der flachen Seite der Klinge auf und ab, als Meneas spürte, wie sich seine Umgebung eigentümlich veränderte.
Die Oberfläche des Tümpels, die kurz vorher noch durch den Regen ein Mosaik zahlloser kleiner Ringe war, lag plötzlich vollkommen glatt und wie eingefroren vor ihm. Meneas konnte ungehindert bis auf den Grund sehen. Ein kleiner Fisch huschte bedenklich nahe an der scharfen Klinge vorbei. Meneas Bewegungen erstarben. Entweder der Regen hatte tatsächlich so unmittelbar aufgehört, oder er spürte ihn nicht mehr. Eine Stille, so vollkommen wie unerwartet und ungewöhnlich, umhüllte ihn.
Von einem Augenblick zum anderen veränderte sich die Wasseroberfläche und ein altes, bärtiges Gesicht erschien. Meneas kannte es. Es war markant und er hatte es bereits zweimal gesehen. Das erste Mal in der Leuchtblase der Zóex-Büchse im »Schwarzkittel« und das zweite Mal an dem Abend, als Gnum die Zóex-Büchse an sich genommen hatte. Es war das Gesicht Alben Surs, des Anführers vom Orden des Enkhór-mûl. Meneas war so erschrocken, dass er sich nicht rühren konnte. Dann hörte er eindringliche Worte, nicht in seinen Ohren, sondern in seinem Inneren, und Alben Surs Lippen bewegten sich nicht.
„Meneas, höre auf diese Warnung. Beende die Suche nach dem Kristall. Du weißt nicht, was geschieht, wenn er zusammengesetzt wird. Er wurde nicht ohne Grund zerstört und vor allem nicht aus dem Grund, den dir die Sinaraner nannten. Widersetze dich uns nicht. Siehe, was durch den Kristall geschehen wird.“
Nun wurde Meneas eine Reihe von Bildern geschickt, die ihn mit großer Bestürzung erfüllten. Mit einem Aufschrei stieß er sich vom Ufer des Tümpels weg und fiel rücklings auf das Gras. Er konnte sich gerade noch mit den Armen abstützen. Wie von einer fremdartigen Kraft gewirkt, fiel sein Blick nach rechts. Dort stand Tjerulf, wortlos, ihn beobachtend und unterschwellig bedrohlich, nur wenige Schritte von ihm entfernt vor einem Strauch. Meneas riss seinen Blick los und drehte seinen Kopf nach vorn.
Am gegenüberliegenden Ufer stand Durhad, wie versteinert mit dem bewegungslosen Fintas auf seiner Schulter. Trywfyn?, dachte Meneas und fand ihn links von sich. Genauso stumm, bewegungslos und bedrohlich wie die anderen. Meneas schloss die Augen. Was hatte das zu bedeuten? Sollten sie die Wirkung von Alben Surs Worten unterstützen? Sollte er glauben, dass sie Spione des Ordens waren? Und versuchte er auf diese Weise, einen Keil zwischen sie zu treiben?
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