Einmal jedoch wurden sowohl die Wachen als auch einige der Schläfer durch einen ungewöhnlichen Lärm aufgeschreckt, zumindest für diese Tageszeit. Es war kurz nach Mitternacht, als ein seltsames Rumpeln, Ächzen, Schnaufen und Geklapper von der Straße her immer lauter wurde. Dann schob sich ein seltsames Ungetüm aus dem Wald heraus, das zwar beleuchtet war, aber so dürftig, dass sie es nicht sofort erkennen konnten. Solvyn und Anuim, die gerade Wache hatten, sowie Idomanê, Tjerulf und Meneas gingen der Straße so weit entgegen, dass sie wenigstens etwas sehen konnten.
Da waren zunächst nur drei hin- und herbaumelnde Laternen oder besser Funzeln zu erkennen. Zwei schwebten vorne und eine kam in kurzem Abstand hinterher, während sie sich über die Straße bewegten. Dann wurde in dem trüben Licht der Umriss eines mächtigen australischen Lastkarrens sichtbar, der von zwei Lambwas gezogen wurde.
Die Laternen waren vorne und hinten an der Kutsche angebracht und der Lärm rührte von den Rädern und den Hufen auf den Pflastersteinen her. Das Ächzen und Knirschen des Wagens ließ darauf schließen, dass er weit überladen war. Von einer antreibenden Stimme des Kutschers hörten sie nichts. Er mochte dösend auf seiner Bank hin- und herschaukeln und die Führung des Gefährtes den beiden Zugtieren überlassen haben. Kaum mehr als ein schwacher Umriss war von ihm zu erkennen.
Schließlich wurden die Geräusche wieder leiser und die letzte Laterne verschwand hinter einem Hügel, an dessen abgewandter Seite die Straße entlang lief.
„Ich denke, wir können wieder ins Zelt gehen“, meinte Tjerulf und verschwand im Dunkeln.
Schließlich wurde es wieder hell und Durhad und Trywfyn, die die letzte Wache hatten, weckten ihre Gefährten. Ihr Frühstück war etwas ungemütlicher als das Abendessen, denn in den Morgenstunden hatte es angefangen, leicht zu regnen, und so ging alles ein wenig schneller als gewöhnlich vonstatten. Nachdem Nephys über dem östlichen Horizont aufgegangen war, was sie allerdings nur an einer allgemeinen Zunahme der Helligkeit feststellen konnten, brachen sie wieder auf.
Wie bereits erwähnt, gab es keine Siedlungen im Limarenwald, aber in unterschiedlichen Abständen lagen Rastplätze an der Straße, die auch zur Aufnahme größerer Gruppen und ihrer Fahrzeuge geeignet waren. Natürlich waren diese Plätze nicht planvoll angelegt worden, sondern es waren ursprünglich unbewachsene, lichte Stellen am Straßenrand, die der Wald ausgespart hatte und die von Reisenden zur Rast und Übernachtung genutzt wurden. Da sie ihr Feuerholz nicht nur sammelten, sondern gelegentlich auch schlugen, waren die Plätze nach und nach immer ein wenig größer geworden. Und sie waren auch notwendig, denn selbst bei einem einigermaßen schnellen Ritt, und zu mehr sahen Meneas und Tjerulf keinen Anlass, würden sie gut eine Woche benötigen, um die Stadt Sigera auf der anderen Seite des Waldes zu erreichen.
Trotzdem wollten die zehn Reiter diese Rastplätze nicht benutzen. Sie wurden schließlich von den Häschern des Ordens von Enkhór-mûl verfolgt und mussten annehmen, dass auch ihnen diese Orte nicht unbekannt waren, deshalb wollten sie versuchen, geschütztere Stellen zu finden. Außerdem wollten sie durch die merkwürdigen Dinge, die immer wieder um sie herum geschahen, weder die Aufmerksamkeit anderer Reisender erregen, denn sie würden an den Rastplätzen nur selten allein sein, noch wollten sie andere durch ihre eigene Anwesenheit in Gefahr bringen.
Auf der Suche nach geschützten Lagerplätzen halfen ihnen die Erinnerung Tjerulfs, Durhads Kenntnisse des Waldes und die Spürnase von Trywfyn, sodass sie niemals Schwierigkeiten hatten, in nicht allzu weiter Entfernung von der Straße eine Lichtung zu finden.
Die ganze Zeit auf ihrem Ritt und nachts durch ihre Wachen blieben sie aufmerksam. Außer den üblichen Reisenden, die seltener waren, als sie erwartet hatten, sahen sie niemanden, der ihren Argwohn erregte. Bis zum ersten gefährlichen Ereignis fiel ihnen niemand auf, der sich in mehr oder weniger auffallend gleichem Abstand hinter ihnen hielt. Einerseits war diese Beobachtung beruhigend, andererseits bot sie keine Gewähr, dass sie mit der Vermutung, noch nicht wieder verfolgt zu werden, Recht hatten, denn ihre Gegner hatten auch schon Krieger ins Feld geführt, die keinem Angehörigen der zweibeinigen Völker Elverans glichen. Und durch sie wurde in der vierten Nacht im Limarenwald der erste von zwei Überfällen verübt, bevor sie die Stadt Sigera erreichten. Es geschah einige Zeit, nachdem sie zu Abend gegessen hatten.
Als sie eine Stelle erreichten, an der Tjerulf mit Solvyn und Durhad vor einigen Jahren schon einmal übernachtet hatte, mussten sie zunächst einiges von dem neuen Aufwuchs entfernen, bevor sie für sich und ihre Pferde ausreichend Platz hatten. Sie entzündeten ein offeneres Feuer als in den Tagen zuvor, denn der Wald um sie herum war dank des üppig wuchernden Unterholzes um die Lichtung herum sehr dicht und schien für einen schwachen Feuerschein kaum durchlässig.
Da es noch früh war, saßen fast alle noch im Kreis um das Feuer herum und unterhielten sich mit gedämpften Stimmen. Lediglich Valea, Freno und Trywfyn hatten sich schon zurückgezogen. Meneas stand auf, um noch einen Arm voll Feuerholz zu holen, das sie noch im Hellen am Waldrand aufgeschichtet hatten.
Plötzlich griff sich Solvyn mit aufgerissenen Augen an den Hals. Zuerst wusste keiner, was sie hatte, doch dann erkannten sie einen fingerdicken Zweig, der sich ihr um den Hals gelegt hatte und dabei war, die Frau in die Büsche zu ziehen.
Solvyn saß im Kreis der Gefährten am dichtesten mit dem Rücken am Waldrand und weder sie noch jemand anderes hatte bemerkt, wie sich in der Dunkelheit aus dem Unterholz heraus ein dünner Zweig vorsichtig herausschob und dann blitzschnell um ihren Hals schlang, als er ihre Schulter erreichte.
Durhad erkannte die Gefahr zuerst. Er sprang auf, zog sein Schwert und hieb den Ast entzwei.
„Zieht sie weg!“, rief er in einen schrillen und fremdartigen Schmerzensschrei hinein.
Tjerulf und Erest packten Solvyn und zerrten sie vom Waldrand weg, taten einige Schritte rückwärts, stolperten dann aber hinter dem Feuer über Anuim, der nicht schnell genug ausweichen konnte, und fielen alle auf einen Haufen. Tjerulf hörte das Würgen und Keuchen Solvyns, aber sie war in Sicherheit, vorerst jedenfalls. Sie hatten keine Zeit, sich um die Frau zu kümmern, denn plötzlich trat mit einem Rascheln und Rauschen ein Baumläufer aus dem Gebüsch.
Es war genau an der Stelle, an der Solvyn gesessen hatte. Noch ehe jemand handeln konnte, tat er zwei Schritte vorwärts und wirbelte mit seinen zweigähnlichen Fortsätzen, die er wie Arme benutzen konnte, herum. Funken stoben auf, als die Beine des Ungeheuers das Feuer zerstreuten. Ein oder zwei kreischende Laute ausstoßend, suchte es sein nächstes Opfer und wandte sich den vier am Boden liegenden Menschen zu. Dann war Durhad wieder da und auch Tjerulf hatte sich gefasst und von seinem Schrecken erholt. Mit wuchtigen Schwerthieben gingen die beiden den Baumläufer an.
Baumläufer waren zähe Wesen und sehr widerstandsfähig. Das hatten sie zuvor bereits unter Beweis gestellt. Wenn sie selbst auch keine Waffen benutzten, jedenfalls hatten sie es gegen die Gefährten bisher noch niemals getan, so konnten sie doch durch das Umherschlagen ihrer Arme gefährliche bis tödliche Wunden verursachen, wenn sie ihre Opfer nicht zu Tode würgten. Es waren keine übermäßig großen Wesen, vielleicht zweimal so hoch wie ein ausgewachsener Mensch, dafür aber erstaunlich flink, flinker als sie erwartet hatten, und von einer Erscheinung, die Furcht einflößte.
In diesem Durcheinander geschahen plötzlich zwei Dinge gleichzeitig. Neben dem Morain erschien wie aus der Luft heraus der Erdmensch Trywfyn mit seiner Streitaxt in der Hand. Mit wütenden Schlägen trennte er ein Gliedmaß nach dem anderen ab, bis der Baumläufer einknickte und in die Reste des Feuers stürzte. Im gleichen Augenblick, als der Ogmari aufgetaucht war, leuchteten am anderen Ende der Lichtung die Klingen von zwei Lichtschwertern auf. Es waren die Waffen von Valea und Freno. Als sie und Trywfyn durch den Lärm aufgeschreckt wurden und aus ihren Zelten blickten, da sahen sie, dass sich ein zweiter Baumläufer auf ihrer Seite aus dem Unterholz gelöst hatte und auf sie zukam.
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