„Angeblich von Norden herab“, antwortete Ohner. „Das könnte stimmen. Mir begegneten immerhin zwei von ihnen, aber die könnten von überall hergekommen sein?“
„Wie bist du ihnen entkommen?“, fragte Trywfyn. Er wusste, dass das nicht einfach war.
„In einen Felsen“, erklärte Ohner grinsend. „Ich sah sie glücklicherweise früh genug, früher als sie mich hätten sehen können. Aber du magst Recht haben. Irgendetwas hat sie aufgeschreckt und vielleicht waren es wahrhaftig Drachen. Falls das wahr ist, dann brechen wieder Zeiten an, in denen Helden gefragt sind. Ich jedenfalls kann nun wieder heimkehren, denn meine Aufgabe ist erledigt.“
„Wie meinst du das?“, fragte Trywfyn.
„Nun, ich habe denjenigen getroffen und unterrichtet, den ich unterrichten sollte“, meinte Ohner. „Tolle Krummbein schickt mich, um dich aus den genannten Gründen nach Hause zu rufen und ich kann ihm sagen, dass du die Nachricht erhalten hast und wieder zurückkehrst. Allerdings betrifft seine Nachricht nur die Tatsachen: den Zug der Walgeister, die Verstärkung der Landwachen und die Unruhe bei den Drachenbergen. Nicht jedoch die Gerüchte über die möglichen Ursachen. Aber nun kennst du sie auch.“
„Gut, dann sag´ ihm, ich werde ich wenigen Tagen wieder zurück sein“, gab Trywfyn Ohner mit auf den Weg und entließ ihn.
Dieses Mal ging Ohner in die entgegengesetzte Richtung und niemand hielt ihn mehr auf.
Für einen kurzen Augenblick grübelte Trywfyn über die Neuigkeiten nach. Noch waren es zu wenige und vor allem zu ungesicherte, um sich ein Bild von der Lage zu machen, aber in einem Punkt zweifelte er an den Worten Ohners: Falls es tatsächlich Drachen in den Drachenbergen gab, dann waren sie nicht der Grund für die Unruhe der Walgeister. So viel verstand er davon. Dafür musste es andere Ursachen geben.
„Was hast du denn zu deinem Landsmann gesagt, bevor er beinahe in die Knie ging?“, fragte Meneas, als Trywfyn wieder zu ihnen kam. „Er konnte sich ja einen Augenblick kaum auf den Beinen halten. War es wegen der Äpfel?“
Trotz der bedenklichen Nachrichten aus seinem Land musste Trywfyn lachen.
„Nein, aber unter uns Ogmari ist mein Name nicht nur ein Name“, antwortete er. „Er hat auch eine Bedeutung und zeigt Wirkung, wie ihr gesehen habt.“
Über die Bedeutung dieser Worte ließ er Meneas aber im Unklaren. Stattdessen sprang er wieder auf sein Pferd. Meneas konnte noch das schwache Lächeln im Gesicht von Tjerulf erkennen, bevor er sein Pferd wieder in Bewegung setzte. Ratlos schüttelte Meneas seinen Kopf und folgte ihm.
Es dauerte jedoch nicht lange, da setzte sich Trywfyn mit seinem Pferd neben das von Tjerulf.
„Es wird wirklich Zeit, wieder nach Hause zu kommen“, meinte er zu ihm. „Ohner hat mir bedenkliche Neuigkeiten berichtet. Er sprach von Drachen, Walgeistern und der Verstärkung der Landwachen. Wir müssen herausfinden, was in Ogmatuum vor sich geht.“
„Walgeister?“, wiederholte Tjerulf und sah Trywfyn erschrocken an.
„Ja“, bestätigte Trywfyn. „Irgendetwas Seltsames geschieht und ich hoffe, dass es nur zufällig mit den Ereignissen der letzten Zeit zusammenfällt, die uns widerfahren sind.“
„Was sind Walgeister?“, fragte Meneas.
„Ihr würdet sie als Vampire bezeichnen“, erklärte Tjerulf. „Sie tauchen nur selten auf. Sie zählen zu den merkwürdigsten Geschöpfen Elverans, obwohl es keine weltlichen sind, sondern eben Geister. Und ihre Nahrung besteht nicht aus Blut, sondern aus den Lebenskräften irdischer Wesen. Eine Begegnung mit ihnen ist äußerst gefährlich.“
„Ich höre davon zum ersten Mal“, meinte Meneas.
„Das wundert mich nicht“, erwiderte Trywfyn. „Wie gesagt, sie sind selten und es scheint sie nur in einigen Gegenden Ogmatuums zu geben, unter anderem im Norden des Landes. Es sind weder Tiere noch Menschen, Morain oder Ogmari. Es ist allerdings recht lange her, dass sie das letzte Mal aufgetaucht sind. Für gewöhnlich leben sie unerkannt und gefahrlos für andere in Felsen und Pflanzen, aus denen sie ihre Lebenskräfte beziehen. Davon, dass sie teilweise ihren Lebensraum mit dem unsrigen teilen, merken wir für gewöhnlich nichts. Werden sie jedoch durch außergewöhnliche Vorgänge aufgestört, dann verlassen sie ihre Wohnungen, treten an die Erdoberfläche und suchen neue Plätze. Wir nennen es »die Walgeister wandern«. Von all ihrer üblichen Nahrung, den Kräften Elverans, abgeschnitten sind sie dann darauf angewiesen, sich von Landlebewesen zu ernähren und da machen sie keinen Unterschied zwischen Menschen, Ogmari, Morain und Tieren. Sie zehren aber nicht von deren Blut, wie die Beschreibung »Vampire« vermuten ließe, sondern von deren geistigen Kräften. Das sichtbare Ergebnis ist allerdings ähnlich - und schauderhaft.“
„Dauert es lange, bis sie wieder vom Erdboden verschwinden?“, fragte Freno, der hinter ihnen ritt und dem Gespräch mit Unbehagen zuhörte.
„Das lässt sich schwer sagen“, meinte Trywfyn. „Wenn aber die Landwachen alarmiert wurden, dann sind sie schon vor einer ganze Weile aufgetaucht.“
„Wie sehen sie aus und was ist mit den Drachen?“, wollte Freno wissen.
„Abwarten“, meinte Trywfyn. „Ich hoffe, wir werden in Ogmatuum bald die Antworten finden. Daher lasst uns keine Zeit verlieren, schließlich werden wir noch einige Tage unterwegs sein.“
Trywfyn spornte sein Pferd an und zwang die anderen, ebenfalls schneller zu reiten, wollten sie ihn nicht verlieren.
Freno schüttelte mit dem Kopf.
„Geister, Drachen und Vampire“, murmelte er. „Was wird uns noch alles auf dieser Reise begegnen.“
„Wir werden sehen“, meinte Valea, die neben ihm ritt und seine Worte gehört hatte, obwohl sie nur gemurmelt waren. „Drachen und Vampire sind uns allerdings noch nicht über den Weg gelaufen.“
Gegen Mittag erreichten sie die Kreuzung, an der die Limarenwald-Straße von jener abzweigte, die sie seit Guff-Mat benutzt hatten. Sie führte durch den gleichnamigen Wald fast gerade nach Westen. An dieser Kreuzung machte die Reitergruppe Rast.
Der Wald hatte seinen Namen nach den Früchten bestimmter Bäume erhalten, die dort in großer Zahl wuchsen. Doch derjenige irrte, der glaubte, dass ein Obst, nach dem ein ganzer Landstrich benannt wurde, besonders wohlschmeckend sein muss. Limaren waren kleine, harte und nussähnliche Früchte, die nur von einigen Vogelarten und von Eichhörnern geschätzt wurden.
Meneas und seine Freunde hatten Fragen zu dem, was Trywfyn von dem fremden Ogmari erfahren hatte. Weder Walgeister noch Drachen waren ihnen jemals untergekommen, auch wenn sie allmählich eine vage Vorstellung von ihnen bekamen, die ihnen zunehmend unangenehm wurde. Anfangs stellten sie ihre Fragen vorsichtig, denn sie wussten nicht, wie groß die Geduld von Tjerulfs Mitstreitern war. Besonders der Ogmari schien ihnen nicht sehr langmütig. Dann jedoch wurden sie mutiger, bis sich tatsächlich die ersten Anzeichen von Ungeduld bei Trywfyn bemerkbar machten und er der Fragerei ein Ende setzte.
„Ich schlage vor, wir warten ab, was wir in Ogmatuum vorfinden“, meinte er. „Einige eurer Fragen kann ich jetzt noch nicht beantworten, bei anderen wird es leichter, wenn die Lage euch die Dinge veranschaulicht. Es scheint mir, als geraten wir schneller in eine solche Lage, als uns lieb ist.“
Tjerulf und Durhad nickten zustimmend und für kurze Zeit herrschte Schweigen. Sie aßen die Reste ihrer Mahlzeit und hingen ihren Gedanken nach.
Erest kam plötzlich ein Einfall, auf den er später noch stolz war.
„Vielleicht gibt es einen Zusammenhang, den wir noch gar nicht in Betracht gezogen haben“, sagte er. „Ich meine zwischen dem Chrysalkristall und einem anderen legendären Ereignis.“
„Welcher soll das sein?“, fragte Solvyn, die wie die anderen nichts mit den Worten Erests anfangen konnte.
Читать дальше