Hans Nordländer
Reise nach Rûngnár
oder die unglaublichen Abenteuer des Nils Holm
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Inhaltsverzeichnis
Titel Hans Nordländer Reise nach Rûngnár oder die unglaublichen Abenteuer des Nils Holm Dieses ebook wurde erstellt bei
1. In einem fremden Land
2. Begegnung im Kerker
3. Flucht und Rettung
4. Im Versteck der Verschwörer
5. Elvis und Janis
6. Charlotte
7. Erinnerungen
8. Das Tchelasan
9. Der Wald von Pinklon
10. Die Lichtung der lebenden Toten
11. Zegrithäa
12. Der Zauberberg
13. Hexenschwestern
14. Die böse Hexe Grotta
15. Begegnung mit einem Schamanen
16. Erfolglose Suche
17. Die Burg der drei Könige
18. Besuch aus der Menschenwelt
19. Überfall in Siegenhorst
20. Der Einsiedler
21. Märchenland
22. Die Märchenfreunde
23. Wieder zu Hause
Impressum neobooks
Ein wenig ratlos blickte sich der junge Mann um. Er wusste nicht, wie er an diesen Ort gelangt war. Er wusste eigentlich überhaupt nichts mehr von dem, was war, bevor er dorthin kam. Das Einzige, woran er sich noch erinnerte, war sein Name: Nils Holm. Aber wenn er versuchte, sich bestimmte Dinge ins Gedächtnis zu rufen, dann war es für ihn mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden, und es gelang ihm nicht, ein Gesamtbild seiner Vergangenheit herzustellen. Seine Gedanken flossen wie ein zäher Brei, und das beunruhigte ihn.
Nils war sicher, dass er nicht mit Absicht an diesen Ort gekommen war und er ahnte, dass er auch gar nicht dorthin gehörte. Er hatte keine Angst, aber er war erfüllt von einer nicht weniger beunruhigenden Verwirrung.
Auch seine Umgebung war ungewohnt. Vieles kam ihm zwar irgendwie vertraut vor, aber manches war sonderbar, obwohl er nicht sofort hätte sagen können, was es war. Das Sonderbare betraf nicht nur die Stimmung an dem Ort, sondern auch seine sichtbare Erscheinung.
Nils stand auf einer Lichtung in einem Wald. Daran war zunächst nichts Außergewöhnliches, außer eben die Tatsache, dass er keine Ahnung hatte, wie er dorthin gekommen war und warum er dort stand. Aber die Pflanzen kamen ihm fremd vor. Während er sich umsah, trat plötzlich die schwache Erinnerung in sein Bewusstsein, dass er eigentlich in einer Stadt lebte. Weder mit Pflanzen noch mit Tieren glaubte er sich jemals beschäftigt zu haben, deshalb versuchte er auch gar nicht erst, über die Namen der Bäume nachzudenken. Immerhin war er aber überzeugt, dass sie anders aussahen als die, die er kannte. Sie waren grün mit Blättern oder Nadeln, besaßen einen ungewöhnlich dünnen Stamm und eine Krone, aber die Blätter einiger der Bäume hatten eine merkwürdig fingerartige Gestalt und die Nadeln der anderen waren außergewöhnlich lang.
Die Lichtung war nicht sehr groß, vielleicht dreißig Meter im Durchmesser. Der Boden war bedeckt von Moos und nur selten wagte sich ein Grashalm empor. Der Wald war so hoch, dass nur wenig Helligkeit den Boden erreichte, und das vermittelte der ganzen Umgebung eine düstere Erscheinung. Die Bäume standen so dicht, dass er nicht weit in den Wald hineinschauen konnte, was wohl auch der Grund dafür war, dass es kein Unterholz gab.
Nils´ Blick folgte dem schmalen Pfad vor ihm, der gerade über die Lichtung führte und zwei Öffnungen im Saum des Waldes miteinander verband, die sich fast gegenüberlagen. Er drehte sich um. Dort muss ich hergekommen sein, dachte er, aber warum kann ich mich nicht mehr daran erinnern? Er horchte kurz in sich hinein. Nein, Furcht über seine Lage empfand er nicht, nur Verwirrung und Befremden. Fast kam er sich vor wie in einem Traum, einem sehr klaren Traum.
Auf dem Boden des Pfades waren keine Spuren zu entdecken, weder von Menschen noch von Tieren, und so blieb die Frage unbeantwortet, wer ihn angelegt hatte. Über Nils wölbte sich ein klarer, wolkenloser Himmel. Und doch war er grau, unnatürlich grau, und ihm fehlte die warme Ausstrahlung eines Sommertages, wie Nils es erwartet hätte. Trotz der warmen Jahreszeit wirkte der Himmel eher frostig.
Und dann erkannte er den Grund. Es gab keine Sonne. Nils schätzte, dass es um die Mittagszeit war und die Sonne hätte über ihm am Himmel stehen müssen. Aber sie war nicht da. Nils empfand die unnatürliche Kälte jetzt deutlicher. Sie war nicht unerträglich, aber unangenehm. Und sie passte nicht an diesen Ort, denn schließlich blühten auf der Lichtung Blumen und nur wenige Schritte entfernt wuchs eine Handvoll erstaunlich großer Pilze. Rote Kappen mit weißen Sprossen, also mussten es Fliegenpilze sein. Die kannte er aus einem Buch, fiel ihm ein, und auch, dass man sie nicht essen sollte. Aber wo, verflixt noch einmal, war die Sonne? Er konnte keine Spur von ihr entdecken. Nirgends durchbrachen wärmende Strahlen die Baumkronen. Trotzdem war es hell, fast so hell wie an einem gewöhnlichen, klaren Sommertag. Das Licht war das Licht des Mittags und nicht des Abends oder des Morgens und kein Tau benetzte die Pflanzen.
Es war ungewöhnlich still, beinahe schmerzhaft still. Nils hörte keine Geräusche und kein Wind fuhr rauschend oder flüsternd durch die Baumwipfel. Die Bäume standen wie erstarrt. Nirgends flogen Insekten und keine Schmetterlinge tanzten über die Lichtung. Nicht ein einziger Vogel war zu sehen oder zu hören. Diese Welt schien einen unerklärlichen Widerspruch in sich zu bergen. Einerseits erkannte Nils, dass Leben um ihn herum war, zumindest pflanzliches Leben, andererseits wirkte seine Umgebung wie eingefroren, beinahe wie tot. Wo, um alles in der Welt, befand er sich?
Hier konnte er diese Frage nicht beantworten. Nils entschloss sich achselzuckend, in den Wald vor ihm hineinzugehen, wie düster und bedrohlich er ihm auch vorkam. Er schloss seine Jacke und machte sich auf den Weg.
Nils wählte den Waldeingang vor sich, weil er sicher war, dass er aus dem Pfad hinter sich auf die Lichtung getreten war, auch wenn ihn sein Erinnerungsvermögen im Stich ließ. Er vermutete es einfach aus der Tatsache, dass er in seinem Rücken lag.
Im Wald kam es ihm dann noch kälter vor, und wie zur Bestätigung dauerte es nicht lange, bis er seinen ersten beschlagenen Atem sah. Nils bewegte sich langsam und immer wieder blickte er sich um. Er wusste nicht, was er erwartete, und er entdeckte nichts, was ihm seine Lage erklären konnte. Offensichtlich gab es auch keine weiteren Lebewesen in seiner Nähe. Und obwohl er ständig mit einer Überraschung rechnete, blieb sie ihm zunächst erspart.
Solange er auf der Lichtung gestanden hatte, waren keine Geräusche zu hören gewesen. Jetzt vernahm er wenigstens seine leisen Schritte auf dem weichen Waldboden und ab und zu das Knacken heruntergefallener Zweige unter seinen Schuhen. Sein Gehör und seine Sehfähigkeit waren jedenfalls nicht beeinträchtigt.
Für eine Weile änderte sich kaum etwas. Der Pfad schlängelte sich zwischen den Bäumen hindurch und war selten weiter als vielleicht fünfzig Meter zu übersehen. Der Waldboden war eben. Weder nach vorn noch nach hinten oder zu den Seiten stieg er an oder fiel ab. Nils blickte auf sein linkes Handgelenk, um die Uhrzeit festzustellen, aber er hatte keine Uhr um. Das trug umso mehr zu seiner Verwirrung bei, denn er verließ seine Wohnung niemals ohne seine Uhr. Dieses Wissen war ein weiterer Teil seiner äußerst lückenhaften Erinnerung. Er ging mit erstaunlichem Gleichmut darüber hinweg. Überhaupt empfand er kein besonderes Unbehagen darüber, in dieser fremden Umgebung zu sein, die sich ihm so unerwartet geöffnet hatte. Für einen kurzen Augenblick kam Nils der Gedanke, dass er sich wirklich in einem Traum befand. Und wenn es so war, dann war er so klar und deutlich, wie er es niemals davor erlebt zu haben glaubte. Nichts erschien ihm verzerrt und surreal, wie es sonst oft der Fall war. Wenn er seine Lage auch nicht verstand, so erfüllte ihn immer mehr ein Gefühl von Neugierde gegenüber dem, was ihn erwartete.
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