Bernd Müller (45), hatte angeblich seine Frau im Streit mit Benzin übergossen, angezündet und bei lebendigem Leibe abgefackelt. Mühsam hatte ihn deswegen zu lebenslänglich verdonnert. Nach zwei Jahren Haft gelang es Müller, in einem Revisionsverfahren, seine Unschuld nachhaltig zu beweisen. Die wieder gewonnene Freiheit nützte Bernd Müller wenig. Seine beiden Kinder wollten nichts mehr von ihm wissen, sein früherer Arbeitgeber verweigerte ihm die Wiedereinstellung, und in seiner Wohnung lebten bereits die Nachmieter. Kurzum, er war gesellschaftlich ruiniert und ließ das OLG schriftlich wissen, der Richter werde irgendwann dafür bezahlen müssen.
Viktor Calin (56), sogenannter „Deutschrusse“ mit deutschem Pass und Zuhälter in Köln, war des Mordes an einer Prostituierten angeklagt gewesen. Es konnte ihm nicht nachgewiesen werden, die Tat begangen zu haben, weshalb Ibrahim Mühsam ihn auch nicht deswegen hatte verurteilen können. Es war aber Mühsam eigen, Angeklagte, von denen er überzeugt war, dass sie die ihnen zur Last gelegten Straftaten begangen hatten, auf geringere Vergehen hin schwer zu verurteilen, wenn man ihnen die wichtigeren Anklagepunkte nicht nachweisen konnte. Calin hatte das Pech, dass die Polizei in seinem Haus auch noch 80 Gramm Heroin und 600 Euro Falschgeld gefunden hatte. Also verurteilte Mühsam ihn auf diese Tatbestände hin zu fünfeinhalb Jahren Haft. Bei der Urteilsverkündung war Calin komplett ausgerastet und hatte versucht, dem Richter an die Gurgel zu springen, was ihm in einem späteren Verfahren vor einem anderen Richter weitere acht Monate Haft einbrachte. Calin machte keinen Hehl daraus, was er mit Mühsam anstellen würde, wenn er seiner habhaft werde.
Czeslaw Pilsudski (52), polnischer Staatsbürger und Bauarbeiter, sollte eine Frau vergewaltigt haben, was Mühsam als erwiesen erachtete und Pilsudski drei Jahre Knast bescherte, was eigentlich sogar unter dem Mindeststrafmaß lag. Besonders glücklich war Pilsudski dennoch nicht mit dem Urteil.
Ahmed Hadad (34), muslimischer Libanese und Markthändler, hatte einem seiner Kunden im Streit ein Ohr halb abgerissen. Für diese Körperverletzung kassierte er ein Jahr Haft ohne Bewährung, weil er schon einmal in Berlin wegen eines ähnlichen Vergehens eine Bewährungsstrafe erhalten hatte. Auch Hadad hatte Mühsam die unmöglichsten Verwünschungen an den Kopf geworfen.“
Der Versicherungsvertreter Hanno Thiemann (53) hatte nur „vergessen“, einem seiner Kunden eine Schadensersatzsumme zu überweisen, die ihm seine Gesellschaft angewiesen hatte. Eigentlich ein Betrugsfall, wenn da nicht noch ein kleiner, aber entscheidender Zwischenfall gewesen wäre. Sein Kunde war nämlich gewahr geworden, dass Thiemann das Geld längst erhalten hatte, und stellte ihn zur Rede. Die Kopfnuss, die er dem Kunden deswegen verpasste, kostete Thiemann acht Monate Haft ohne Bewährung. Mühsam versagte ihm die Bewährung, weil Betrug im Spiel gewesen war, und Thiemann erklärte vollmundig nach seiner Haftentlassung, vermutlich weil er vor dem Scherbenhaufen seiner Berufslaufbahn stand, er werde noch mit Mühsam abrechnen.
Ein ganz anderer Fall war der der kleinen Veronika Kormann. Die damals Achtjährige war von einem Triebtäter auf ihrem Nachhauseweg von der Schule abgefangen, vergewaltigt und getötet worden. Als Tatverdächtiger wurde ein gewisser Hajo Konrads (33) ermittelt und vor Gericht gebracht. Ähnlich wie beim Prozess gegen Klaus Hummel sprach Mühsam den Angeklagten aus Mangel an Beweisen frei. Silke Kormann (37) und ihr Mann Ludwig (39), beide Inhaber eines Architekturbüros in Köln, ließen seither keine Gelegenheit aus, den Medien zu erklären, Ibrahim Mühsam sei als Richter eine absolute Fehlbesetzung. Das war zwar keine Morddrohung, aber die Hartnäckigkeit, mit der die Kormanns gegen Mühsam zu Felde zogen war schon sehr markant. Zudem war Hajo Konrads wenige Tage nach dem Urteil abgetaucht und seither nie mehr gesehen worden.
Der Rentner Otto Fühlig (84) wurde am Kölner Südbahnhof angeblich von einem Mann namens Hugo Hipp (27), - der hieß wirklich Hugo Hipp -, vor eine einfahrende S-Bahn auf die Gleise gestoßen. Auch im Fall Fühlig wurde der Angeklagte in dubio pro reo freigesprochen. Und ähnlich wie im Fall Kormann hatten sich die Hinterbliebenen im Nachhinein über Gebühr über Richter Mühsam aufgeregt. Ganz vorneweg Achim Fühlig (56), der Sohn des vom Zug Überrollten.
Steiner war inzwischen am Haus von Johann Manherr (34) angekommen, dem Bruder des Mordopfers Wilfried Manherr. Johann Manherr war selbständiger Steuerberater und arbeitete von zuhause aus. Dementsprechend hatte er so ungefähr das gesamte Erdgeschoss seines Hauses in Büroräume umgewandelt. Dennoch beschäftigte er keine Angestellten, aber er brauchte auch, was die Nutzung seines Hauses anging, keine Rücksicht auf eine Ehefrau oder auf Kinder zu nehmen. Er war nie verheiratet gewesen.
„Ah, Herr Hauptkommissar”, begrüßte Manherr Steiner. „Was kann ich für Sie tun?“
„Tja, Herr Manherr, nachdem nun das Verfahren gegen Klaus Hummel geplatzt ist, stehen wir wieder dort, wo wir im Juli vor einem Jahr gestanden haben.“
„Ähnliches habe ich schon befürchtet”, entgegnete Johann. „Halten Sie Klaus denn wirklich für unschuldig? Aber kommen Sie doch erst einmal herein.“
Manherr führte Steiner in ein Zimmer, das als Konferenzraum ausgestattet war, und er bot ihm am großen rechteckigen Konferenztisch Platz an.
„Ich habe Herrn Hummel nie für wirklich schuldig befunden, Herr Manherr. Er hatte nur das Pech, kein Alibi, aber wohl ein Motiv zu haben. Andere Verdächtige hatten sich ja nun leider nicht auftreiben lassen.“
„Ehrlich gesagt, habe ich Klaus auch nie für schuldig gehalten.“
„Nicht?“, staunte Harald.
„Ich habe ihn ja persönlich gekannt”, legte Manherr dar. „Er war kompetent, was sein Fachgebiet anging, und ansonsten ein sehr ruhiger Typ. Ich und überhaupt jeder in der Firma wusste, dass er zur Flasche griff. Das hat seine Arbeit nie echt beeinträchtigt. Es war nur so, wie es ja auch vor Gericht zur Sprache gebracht worden ist, dass er immer dann, wenn er in Vollrausch verfiel, tagelang nicht mehr zur Arbeit erschien. Letztendlich kostete ihm genau das seinen Job. Aber ich denke, dass jemand, der sich doch zumindest noch so im Griff hat, sich der Öffentlichkeit zu entziehen, wenn er weiß, dass es äußerst unvorteilhaft für ihn sein könnte, sich ihr in seiner unberechenbarsten Konstellation zu präsentieren, nicht auf die Idee kommt, einen Doppelmord zu begehen.“
„Das hört sich aber widersprüchlich an”, meinte Harald. „Haben Sie bereits von den Morden an Richter Mühsam und seiner Frau gehört?“
„Da war etwas über einen Mord an einem Ehepaar in der Lokalzeit im WDR. Waren das etwa die Mühsams? Wenn das ein Scherz sein soll…“
„Das ist kein Scherz. Leider nicht.“
„Sie denken doch nicht etwa, dass ich oder sonst wer der Familien Manherr oder Hack etwas damit zu tun hat.“
„Wir dürfen in der augenblicklichen Phase unserer Ermittlungen nichts ausschließen, aber das ist jetzt gewiss nicht der Grund meines Besuches bei Ihnen. Haben Sie einen Großvater namens Jochen Manherr?“
„Jetzt bin ich aber baff. Gestern noch ging es vor Gericht um den Mord an meinem Bruder, jetzt kommen Sie her und erzählen mir, der Richter sei ermordet worden, und dann fragen Sie mich nach meinem Großvater.“
„Was ich frage oder sage, darüber brauchen Sie sich nicht den Kopf zu zerbrechen. Also, heißt Ihr Großvater Jochen Manherr oder nicht?“
„Ja sicher, mein Großvater hieß Jochen, allerdings ist er schon zehn Jahre tot. Er ist auf dem Melatenfriedhof beigesetzt worden. Aber warum wollen Sie das überhaupt wissen?“
Irgendwie hatte Harald den Verdacht, dass es vielleicht ratsamer für ihn sei, diesem Johann Manherr nicht mitzuteilen, Jochen Manherr gerade erst vor drei Stunden gesprochen zu haben. „War Ihr Großvater im Krieg bei der SS?“
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