1 ...8 9 10 12 13 14 ...17 Schmidt hatte es da mit dem Durchstöbern des Richterbüros einfacher. Alles, was Mühsams Sekretärin einsehen durfte oder wozu sie aus beruflichen Gründen Zugang haben musste, war für den Kommissar ohne Interesse. Anders sah das mit einem Stahlschrank aus, dessen Türen abgeschlossen waren und wozu auch die Sekretärin keinen Schlüssel besaß. Nachdem für Schmidt feststand, dass auch sonst nirgendwo in diesem Büro passende Schlüssel für den Schrank zu finden waren, ging Heinz es sehr unkonventionell an und bediente sich einer Büroklammer, die er aufbog und zweckentfremdet zum Einsatz brachte. Der Schrank war über die Hälfte mit Akten gefüllt, die äußerlich allesamt in amtlichen Gerichtsmappen eingebunden waren, inhaltlich aber nichts mit direkten Gerichtssachen zu tun hatten. Zunächst nahm er die Dossiers nur oberflächlich in Augenschau. Aber das reichte schon, um zu wissen, dass es hier wirklich um etwas anderes ging als um Angelegenheiten, die vor dem Strafgerichtshof von Köln verhandelt worden waren. Dass ausgerechnet der Name Manherr in einer der Akten vorkam, wenn auch nicht Wilfried Manherr…
Auf nahezu dieselbe Unerklärlichkeit stieß Harald Steiner, als er den Rabbiner Isidor Nagel aufsuchte. Nagel war ein Mann von etwa 70 Jahren, hatte aber noch schwarze Haare, - vielleicht gefärbt? -, trug einen dunklen Anzug, einen schwarzen Hut und eine dick beränderte Hornbrille. Letztere warf bei Steiner die Frage auf, ob jüdische Prediger vielleicht ganz allgemein Aktien bei einer Optikerkette haben, denn er konnte sich nicht daran erinnern, jemals einen Rabbi gesehen zu haben, der nicht mit einem solch hässlichen Nasenfahrrad ausgestattet gewesen wäre. Allerdings galt dasselbe für katholische Nonnen. Seltsam, seltsam.
Als sich der Hauptkommissar vorgestellt hatte, überraschte ihn der Geistliche mit der Frage: „Kommen Sie wegen den Morden an dem Ehepaar Mühsam zu mir?“
„In der Tat. Aber wie kommen Sie darauf? Die Presse kennt die wirklichen Namen der Opfer doch noch gar nicht.“
„Jonas, der Sohn hat mich heute Morgen angerufen und hat es mir erzählt. Polizei besucht mich ansonsten nur, wenn sich mal wieder jemand berufen fühlte, Hakenkreuzschmierereien an unseren Synagogen oder auf unseren Grabdenkmälern anzubringen.“
Harald ging kurz die Frage durch den Kopf, ob es wohl Juden eigen sei, in Gesprächen mit Deutschen in jedem zweiten Satz die Erinnerung an Hitlers Zeiten wiederzubeleben. Andererseits war er ja ausgerechnet wegen diesem Thema hierhergekommen. Er war schon froh, dass der Rabbi ihm einen Platz in einem Sessel angeboten hatte. Bei einem Japaner, so dachte er, hätte er womöglich nur vor einem Tisch mit abgesägten Beinen knien dürfen. Harald Steiner war nun einmal ziemlich skeptisch eingestellt, wenn es um Leute ging, die kulturell nicht ganz dem Standard eines mitteleuropäischen Bürgers entsprachen.
„Herr Nagel, man erzählte mir, Sie haben Ibrahim Mühsam näher gekannt.“
Nagels Lächeln wirkte gelangweilt. „Ihn und seine Frau näher gekannt haben zu wollen, wäre, was mich betrifft, geprahlt. Ibrahim und Marianne besuchten die Synagoge nur zum jüdischen Osterfest. Sie taten alles, um bloß nicht als Juden aufzufallen, was ich ihnen nicht verdenken kann, zumal er ein Richter war. Allerdings hat er mich auch des privat Öfteren aufgesucht, um mit mir über grundsätzliche Dinge zu reden.“
„Über das Verfolgen von Altnazis vielleicht?“, nahm Steiner an.
„Unter anderem auch darüber. Sie haben anscheinend schon herausgefunden, dass das sein Hobby war.“
„Ja, und genau darüber möchte ich mehr wissen. Es könnte immerhin sein, dass es ihm und seiner Frau das Leben gekostet hat.“
„Meinen Sie?“ Der Rabbi zündete sich zu Haralds Erstaunen eine Zigarette an, hatte er doch immer geglaubt, orientalische Geistliche seien in fast jeder Hinsicht Abstinenzler. „Ich halte das für eher abwegig. Bedenken Sie nur, wie alt solche Leute heutzutage sind, wenn sie noch leben. Ihre Kinder wären ja bereits Greise. Wie ich hörte, sind Marianne und Ibrahim mit einem Gegenstand erschlagen worden. Können Sie sich vorstellen, dass ein alter Mann von fast neunzig Jahren jemanden erschlägt?“
„Eigentlich nicht. Was wollte Mühsam mit seinen Recherchen erreichen?“
„Das haben Sie noch nicht herausgefunden?“ Steiner machte eine verneinende Geste. „Na ja, eigentlich sollte es mich auch nicht verwundern”, fuhr der Rabbi fort. „Ibrahim war ein Eigenbrötler. Also, die Sache war die, er hatte vor, nach seiner Pensionierung eine Stiftung zu gründen, die die Opfer oder Hinterbliebenen von Opfern von Unrechtsregimen finanziell unterstützen sollte. Das Geld dafür hatte er vor zusammenzubekommen, indem er eben politisch unkorrekte Leute zu Spenden zwingen wollte.“
„Verstehe ich Sie recht, er hat Altnazis erpresst? Ist ihm das denn auch gelungen?“
„Wie ich schon andeutete, Ibrahim war nicht sehr mitteilsam. Allerdings hatte er mal fallen gelassen, er und seine Frau hätten schon an die vier Millionen Euro für diesen Zweck gesammelt. Übrigens galt sein Interesse nicht nur Nazis. Er befasste sich auch mit Stasileuten.“
„Oha!“, rief Harald aus. „Wieso das denn?“
„Genaues weiß ich nicht darüber”, antwortete Nagel. „Ich weiß nur, dass die Eltern von ihm irgendwo aus dem heutigen deutschen Osten stammen, dort von den Nazis in den Dreißigern enteignet wurden und weder von der DDR und auch nicht später von unserem deutschen Staat entschädigt worden sind.“
„Aber etwas Konkretes wissen Sie nicht?“
„Das letzte Mal, als ich ihn sah, nannte er den Namen Manherr. Das ist allerdings schon Monate her. Und ob es damit im Zusammenhang steht, weiß ich nicht.“
„Manherr?“ Steiner musste unwillkürlich lachen. „Der Junge war doch erst 30 Jahre alt, als man ihn ermordete. Was soll der mit Nazis oder Stasifuzis zu tun gehabt haben?“
„Wir reden wahrscheinlich nicht über dieselbe Person”, entgegnete der Rabbi ungerührt. „Der Manherr, den Ibrahim auf dem Kieker hatte, soll Aufseher in Auschwitz gewesen sein. Übrigens soll er hier in Köln wohnen. Jochen ist sein Vorname, wenn ich nicht irre.“
„Jochen Manherr“, so weit war Heinz Schmidt auch schon, als er und Ralf auf der Rückfahrt ins Präsidium waren und er mit seinem Chef telefonierte, der das Haus des Rabbis gerade verlassen hatte, „scheint Mitglied der Waffen-SS gewesen zu sein. Wenn man Mühsams Akten Glauben schenken darf, lebt der Mann noch und wohnt in Köln-Deutz. Ich habe hier sogar seine angebliche Adresse.“
„Was habt ihr sonst rausgefunden?“, fragte der Hauptkommissar.
„Frag mich mal lieber, ob die Hinterachse unseres Autos bis zum Präsidium durchsteht. Dieser Mühsam hat offiziell und offiziös Akten im Umfang einer mittelgroßen Staatsbibliothek angelegt. Bis wir da durch sind, baden sich unsere bis dahin gewachsenen Bärte beim Essen längst in den Suppentellern.“
Ausnahmsweise musste Steiner wegen der Metapher schmunzeln. Immerhin waren weder Ralf noch Heinz Bartträger.
Er ließ sich die Adresse dieses Jochen Manherrs geben.
Als Harald vor der Tür der angegebenen Adresse stand, schaute er etwas irritiert auf das Klingelschild. Da stand nicht Jochen Manherr, sondern Holger Manherr. Aber es gibt ja immer wieder Leute, so dachte er, die ihren ersten Vornamen nicht mögen und sich daher lieber bei einem ihrer nächsten Vornamen ansprechen lassen.
Er läutete. Nach etwa fünfzehn Sekunden wurde die Tür des Reihenhauses geöffnet. Steiner war erstaunt. Wenn der Mann, der ihm nun gegenüberstand, bei der SS gewesen sein sollte, dann konnte der Zweite Weltkrieg doch noch nicht so lange zurückliegen, wie er gedacht hatte. Jedenfalls hätte dieser Mann optisch durchaus für 70 durchgehen können.
„Sind Sie Jochen Manherr?“, fragte Steiner.
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