Trotzdem hatte Steiner zwei Fragen nicht gestellt, nämlich ob Mühsam nicht doch versucht hatte, den Alten zu erpressen, und weshalb der Vorname Holger an der Klingel geschrieben stand.
Ralf Frisch, Heinz Schmidt und Monika Mink hatten sich ausgiebig mit den Strafverfahren, denen Mühsam als Richter vorgesessen hatte, im Schnelldurchgang befasst. Alsbald war klar, Mühsam hatte seine Prozesse fast immer im Eiltempo durchgepaukt, was dazu geführt hatte, dass er innerhalb von etwas weniger als zwanzig Jahren 397 Fälle über die Bühne hatte bringen können. 28 Verfahren behandelten vorsätzliche Morde, 82 Affektmorde, die meistens als Totschlag gewertet worden waren, 109 Vergewaltigungen, wovon 20 mit tödlichem Ausgang, der Rest unterteilte sich in Kindesentführungen, Morden an und Misshandlungen von Kindern, Fahrerfluchten, Brandstiftungen, Schlägereien, Menschenhandel und einigen anderen Abartigkeiten.
Wichtig erschienen nur die Fälle zu sein, bei denen ein Verurteilter oder ein ansonsten an einem Fall Interessierter Schmähungen gegen Richter Mühsam ausgesprochen hatte, und das war nicht einmal sehr selten der Fall gewesen. Aktenkundig waren 151 solcher Fälle. Die Kommissare mussten schon schwer sieben, um mögliche Verdächtige herauszufiltern, denn nicht jeder, der in seinem Unmut über ein Urteil unbedacht böse Worte von sich gegeben hatte, war auch als potenziell gefährlich zu betrachten.
Harald Steiners nächster Kandidat war Helmut Jansen, Inhaber der Kneipe Blaubart in der Innenstadt. Hier, so hatte Jonas Mühsam angegeben, habe er am Vortag von dreizehn Uhr bis halb vier im Nachmittag seine Zeit verbracht.
Als Steiner die Wirtschaft betrat, befanden sich nur zwei Gäste im Raum, die beide auf Hockern an der Theke saßen und beinahe geistesabwesend ihre halb mit Kölsch befüllten Gläser anstarrten. Dass der dritte Anwesende der Wirt war, ergab sich von alleine, da Helmut Jansen die einzige Person hinter der Theke war.
Dennoch Haralds Frage an ihn: „Sind Sie der Wirt?“
„Wer will das wissen?“
„Die Kripo Köln will das wissen.“
Die versoffenen Augen der beiden Gäste blickten zu Steiner rüber, aber nur ganz kurz.
„Sie Scherzkeks”, sagte Helmut Jansen und gab einen Lachlaut von sich. Derweil legte Steiner seinen Dienstausweis auf den Tresen, der den Wirt zum Umdenken bewog.
„Oh, entschuldigen Sie, Herr Kommissar. Ich hatte wirklich gedacht, Sie wollten mich nur auf den Arm nehmen.“
„Nee, dazu sind sie mir wohl etwas zu schwer. Verkehrt bei Ihnen ein Stammgast namens Jonas Mühsam?“
„Ja, Jonas ist häufiger hier. Wieso fragen Sie?“
Steiner ging nicht auf Jansens Rückfrage ein. „War Jonas gestern auch hier?“
„Lassen Sie mich überlegen.“
„Jetzt machen Sie aber die Witze”, konterte Harald abrupt. „Es sieht hier ja nicht gerade so aus, als könnten Sie sich vor lauter Gästen nicht mehr retten.“
Der Wirt schmunzelte. „Ja, da haben Sie auch wieder Recht. Seit diese Bekloppten das Rauchverbot in Gaststätten durchgesetzt haben, amüsieren sich viele lieber in ihren eigenen vier Wänden. Kann man es denen verdenken?“
„Das war nicht meine Frage”, erwiderte Steiner barsch, obwohl er durchaus die Meinung des Wirts teilte, dass nur Idioten ein Rauchverbot in Kneipen und öffentlichen Gebäuden haben durchsetzen können. Er selber war Pfeifenraucher und scherte sich einen Dreck darum, dass er eigentlich in seinen eigenen Diensträumen nicht rauchen durfte. Die Argumente der „Antirauchermafia“, wie er sie nannte, hielt er für übelsten Populismus. Raucher erleiden Lungenkrebs und liegen somit selbst verschuldet den Krankenkassen auf der Tasche. Sein Gegenargument hieß, wenn Raucher früher sterben, dann entlasten sie die Rentenkassen. Darüber hinaus spielen sie über die Tabaksteuer der öffentlichen Hand wesentlich mehr Geld ein, als was sie als angeblich vom Rauchen Dahinsiechende der Allgemeinheit überhaupt in der Endphase ihres Lebens kosten können. Mal ganz davon abgesehen, dass er, Steiner, genug Nichtraucher kannte, die an Lungenkrebs zugrunde gegangen waren, und viele Kettenraucher, die ein biblisches Alter erreicht hatten, ohne jemals einen Arzt aufgesucht zu haben. Und auch dieses Geschwafel über Passivrauchen hielt er für dummes Geschwätz. Man brauche als Nichtraucher nur in einer Stadt wie Köln zu leben, um täglich genügend Abgase von Autos einzuatmen, die für Lungenkrebs verantwortlich sein können. Nach seiner Meinung waren Verfechter des Rauchverbotes frustrierte Fanatiker, die sich über ihre einfältigen Forderungen nur dafür zu rächen versuchten, selber nicht mehr zu rauchen oder nie in den Genuss gekommen waren, geraucht zu haben. Aber das war ja nun nicht das Thema, das er hier zu erörtern hatte.
Inzwischen kleinlaut geworden, sagte Jansen: „Ja, Jonas war gestern Nachmittag hier. Er kam zusammen mit diesem Gisbert Zöller. Die arbeiten, glaube ich, im selben Betrieb. Das war etwa um 13 Uhr. Gisbert war nur kurz hier und ist nach einer halben Stunde auch wieder gegangen. Jonas ist bis ungefähr 16 Uhr hiergeblieben. Ich habe ihn nicht gefragt, wieso er so lange hier verweilte, aber es wunderte mich schon. Diese Anwälte, die werden doch donnerstags viel zu tun haben.“
Als Nächstes steuerte Harald das Wohnhaus von Gerda Hack in Marienburg an.
Die Witwe von Walter Hack empfing ihn freundlich. Es mutete Steiner aber seltsam an, dass sie immer noch in schwarz gekleidet war. Ihr Gatte war doch bereits zehn Monate tot.
Frau Hack zeigte sich über die Ermordung Mühsams äußerst überrascht, begriff aber die daran verbundene Essenz des Besuchs von KHK Steiner.
„Ich habe nie echt geglaubt, dass Klaus meinen Mann und Wilfried umgebracht hat. Er ist nicht der Typ dafür.“
„Mit anderen Worten, Sie waren mit dem Urteil einverstanden?“
„Ich kann doch nicht wollen, dass jemand unschuldig verurteilt wird, nur damit überhaupt jemand verurteilt wird. Sagen Sie mir lieber, was Sie in diesem Fall zu unternehmen gedenken.“
„Wir fangen wieder bei null an, Frau Hack. Klaus Hummel war der Einzige, der ein Motiv gehabt haben könnte, und wir sind nirgendwo auf Unregelmäßigkeiten gestoßen, was den Betrieb Ihres Mannes und seines Sozius angeht. Entschuldigen Sie bitte, dass ich es ausspreche, darüber überhaupt nachgedacht zu haben, aber wir hatten nicht einmal den Eindruck, dass die Hinterbliebenen einen Grund gehabt hätten, den Tod der beiden herbeizuführen. Die Firma schien zwar gut zu laufen, aber es dürfte Ihnen und Frau Manherr nichts daran gelegen haben, Ihre Ehemänner zu beerben, da Sie beide ja gar keine Ahnung von dem Geschäft haben.“
Gerda Hack zeigte sich nicht ob dieser Eröffnung beleidigt. „Da haben Sie Recht. Wir verdanken es nur dem Einsatz meines Schwagers Ludo und insbesondere des Bruders von Wilfried Manherr, dem Johann, dass wir den Laden so günstig haben abwickeln können. Ich hätte ja nie gedacht, dass man dafür 3 Millionen Euro kriegen könnte.“
Die Überraschung war nun ganz auf Steiners Seite. „Drei Millionen. Die Firma hat tatsächlich drei Millionen Erlös gebracht? Wie das denn? Wenn ich mich recht entsinne, verkauften Ihr Mann und Herr Manherr doch nur elektrische Haushaltsgeräte wie Waschmaschinen, Föhns und Geschirrspüler, und so immens groß war das Warenlager ja nun auch nicht.“
„Wie gesagt, da fragen Sie doch am besten Johann Manherr. Der hat damals alles geregelt.“
Inzwischen hatten Steiners Assistenten die Anzahl von Leuten, die aufgrund von Mühsams Gerichtsurteilen Rachegelüste gegen den Richter gehegt hatten, welche über das Maß der verbalen Anfeindung hinausgegangen sein könnten, ziemlich gut zusammengestrichen. Übrig blieben demnach nur noch 18 ernstzunehmende Kandidaten, von denen sieben besonders aktuell zu sein schienen.
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