In den links zur Flugrichtung gelegenen Panoramascheiben baute sich gleichzeitig die scheinbar unermesslich hohe Wand von Caeleon II auf, dessen chaotische, fremdartige Wolkenstrukturen im scharfen Kontrast zu den doch stark an die Erde erinnernden Oberflächendetails vom Saphir standen. Alle bewunderten vollkommen atemlos das sich bietende Schauspiel, unfähig, auch nur ein Wort über die Lippen zu bringen.
Rechts von ihnen, weit oberhalb der gekrümmten Planetenoberfläche, konnte man überdies noch zwei kraterbedeckte gelblich-bräunliche Monde ausmachen, die den Saphir umkreisten: Fateon und Krhowrah. Beide waren atmosphärenlose, tote Wüsten, die von bis zu 30 Kilometer tiefen Spalten und Rissen durchzogen waren und Relikte einer sehr gewalttätigen Entstehungsgeschichte waren.
Und wieder überkam alle zunächst das Gefühl des Verlorenseins, des Hilflos-Ausgeliefert-Seins im Angesicht dieser grandiosen Naturkulisse. Die Probleme, die es auf der Erde gab, und an die sie während ihrer Reise hierher wiederholt gedacht hatten, erschienen ihnen plötzlich wieder einmal in einem anderen Licht: Als belanglose, unwichtige, primitive Ereignisse, die irgendwo weit, weit weg stattfanden und die ohne Bedeutung für ihr Schicksal, geschweige denn die Zukunft des Universums waren.
Aber dann überwältigte jeden von ihnen das Gefühl, in eine völlig andere Realität eingetaucht zu sein, eine, die alle ihre Sorgen wegzauberte und sie mit tiefem Frieden und völliger Ausgeglichenheit erfüllte.
Und manch einer schämte sich dafür, dass er während des Landeanflugs auf Caeleon II in Todesangst geraten war. Denn rückblickend betrachtet machte es natürlich überhaupt keinen Sinn, erst mühselig und aufopferungsvoll Menschen auf Sol III zu retten, hierher zu bringen und dann auf einem Gasplaneten samt dem Raumschiff in einem selbstmörderischen Crash zu vernichten.
Ajaz, Mahmoud, Yossi und Saleh schalten sich selbst jeweils als Dummköpfe. Sie schämten sich sogar dafür, Knud und seiner ehrenwerten Mannschaft so eine Leben zerstörende, sinnlose Aktion unterstellt zu haben.
Aber erneut befreite Knud sie aus diesen psychisch belastenden Gedankengängen:
„Grämt euch nicht ob der vorhin gezeigten, übernervösen Verhaltensweisen, als wir uns dem Saphir näherten. Denn als ich diese Welt vor langer Zeit das erste Mal mit meinen eigenen Augen sah, bin ich ebenfalls vor Angst fast verrückt geworden. Denn dieser Gasriese wirkt auf Beobachter von seinen Abmessungen so erdrückend, so furchterregend und von seiner Atmosphärenstruktur so bedrohlich, dass jedermann in irgendeiner Weise in seinen Bann gezogen wird.
Jetzt erst nahm Mouad bewusst das seltsame grünblaue Band wahr, das ihm zwar schon aufgefallen war, als sie sich an Bord der Intrepid befanden. Die Faszination der von unermesslichen Stürmen aufgewühlten Atmosphäre hatte ihn vorhin jedoch dermaßen in den Bann gezogen, dass er dieser Struktur zu diesem Zeitpunkt keine intensivere Beachtung geschenkt hatte.
Er knuffte seinen Mann in die Seite. Doch dieser wehrte mit einer Handbewegung ab, weil er sich auf den Landeanflug konzentrieren musste.
Mouad konnte seine Neugier nicht mehr im Zaum halten und sprach daher den Professor auf dieses eigenartige Etwas an. Aber der schüttelte auch nur verständnislos den Kopf. Diesem Objekt konnte er keinerlei sinnvolle Bedeutung beimessen, denn so einen Himmelskörper konnte er in keine bekannte kosmische Objektkategorie einordnen. Wahid und Mouad glaubten, ausgedehnte Wasserflächen, Wolken und grüne Landmassen zu erkennen. Aber das alles auf einem ringförmigen Gebilde, das so ganz anders aufgebaut war als eine Planetenkugel? So etwas dürfte doch noch nicht einmal ein genügend großes Schwerefeld besitzen, um zu verhindern, dass die Gasmoleküle der offensichtlich dort vorhandenen Atmosphäre einfach in den Weltraum diffundieren.
Sie wagten Knud nicht erneut zu belästigen, denn dieser konzentrierte sich noch stets auf seine Flugmanöver.
Immer deutlicher zeichnete sich schräg vor ihnen das bereits von der Intrepid aus bewunderte ausgedehnte, kreisförmige Binnenmeer ab, in dessen Mitte sich eine bewaldete Insel befand. Eine pilzförmige, graue, aschebeladene Eruptionswolke, die an ihrer Spitze von elektrischen Ladungen bekrönt war, zeigte an, dass sich dort vermutlich ein Stratovulkan befand, dessen genaue Abmessungen aus dieser Höhe jedoch mit bloßem Auge nicht ermittelt werden konnten. Pyroklastische Ströme, die sich an den Seiten des Berges hinab wälzten, unterstrichen das zerstörerische Potential dieser geologischen Struktur.
Wahid schätzte den Durchmesser dieses Überbleibsels eines gigantischen Meteoriteneinschlags auf etwa 1 200 Kilometer. Wolkenstraßen, wie Perlenschnüre aufgereiht, verliefen breitengradparallel über die Seeoberfläche. Dabei entstand ein beinahe deckungsgleiches Schattenmuster, dass die silbrig-glänzende Reflexion des Sonnenlichtes auf dem Wasser in regelmäßigen Abständen unterbrach. Ganz im Norden, weit, weit weg, konnte man eine riesige, schneebedeckte Gebirgskette erahnen, die einen abrupten Abschluss der Seeoberfläche bildete.
Knuds Freunde unterhielten sich leise flüsternd, ganz unter dem Eindruck dieses faszinierenden Landeanflugs.
Aber für Kanei war das alles zu viel. Das erste Mal in seinem Leben verspürte er vor einem Erwachsenen Respekt. Denn dieser Knud hatte gegenüber ihm Qualitäten gezeigt, die er noch niemals bei einem Menschen gesehen hatte. Zudem besaß er Kenntnisse, die jede für ihn vorstellbare Dimension sprengten. Seine großspurige, bis zur unerträglichen Arroganz führende Überheblichkeit und Selbstsicherheit schmolz dahin. Seit sehr langer Zeit fühlte er sich als Kind, als hilfloses Geschöpf, das nach Liebe, Zuwendung und Geborgenheit lechzte. Irgend etwas schnürte ihm die Kehle zusammen, ein Gefühl, dass er in dieser Intensität seit langer Zeit nicht mehr erfahren hatte.
Endlich ertönte die beruhigende Stimme der Flugleitstelle in Naroda, dem Raumhafen am Fuße des Polgebirges, wie Knud ihnen erläuterte. Dies bedeutete, dass der Zyklop nun mit Hilfe eines Leitstrahles sicher in den Hangar des Raumhafens geflogen würde.
Knud entspannte sich und sah auf die unter ihnen vorbeiziehende Landschaft: Eine offensichtlich unberührte Wildnis aus Seen, mäandrierenden Wasserläufen, Hügeln und kleineren Gebirgsketten, deren Gipfel teilweise über die Vegetationsgrenze hinausragten, breitete sich über ausgedehnte Areale am Westrand des Sees aus.
Wahid erinnerte diese Landschaft an die vom Menschen unbeeinflusste Natur, die er vor langer Zeit im Yosemite Nationalpark im Westen der Vereinigten Staaten auf der Erde mit allen seinen Sinnen genossen hatte. Aber diese Landschaft hier schien von einer Erhabenheit, Einsamkeit und Schönheit zu sein, wie man es auf der Erde nirgends mehr antreffen konnte.
Unzählige ,Ooohhs’ und ,Aahhs’ der Begeisterung waren zu hören, als das Schiff sich mehr und mehr der Planetenoberfläche näherte und immer mehr geographische Details identifiziert werden konnten.
Can und Davin hatten jedoch die Annäherung an Caeleon II nicht vergessen und brannten darauf, dass Knud ihnen endlich ein besonderes Phänomen näher erklärte.
„Was ist das für ein eigenartiges, grünes Band, das bereits vom Raumschiff aus zu sehen war?”, fragten sie schließlich neugierig.
Alle schauten Knud in gespannter Erwartung an, denn so mancher von ihnen hatte sich schon vergeblich sein Gehirn zermartert, was es mit dieser Struktur auf sich haben könnte.
Dieser runzelte schließlich die Stirn:
„Das ist für Außenstehende ziemlich schwierig zu erklären, zumal wenn man nicht so dicht dran ist, um dieses Bauwerk näher in Augenschein zu nehmen.”
Er zögerte und schien zu überlegen, ob das jetzt der richtige Zeitpunkt für eine ausführliche Erläuterung einer der Meisterleistungen antiker föderaler Ingenieurskunst wäre.
Читать дальше