Ab da begann man, über viele Jahrtausende hinweg die Milchstraße langsam und vorsichtig zu erforschen.
Jetzt springe ich mal in der Historie: Über den Zeitraum der letzten 700 Jahre wurden nur einige wenige Rassen am Rande der Milchstraße in die Föderation aufgenommen. Dazu zählte aber schon damals überraschenderweise der relativ weit abgelegene und bis heute in vieler Hinsicht besonders rätselhafte Planet Epsilon Eridani IV - der Ozeanplanet.
Auf eurer Heimatwelt tobte damals der Hundertjährige Krieg zwischen England und Frankreich. Mitteleuropa erholte sich gerade von den wirtschaftlichen und menschlichen Verlusten, die die Kreuzzüge den Menschen in den Jahrhunderten vorher aufgebürdet hatten. Terra stand damals kurz vor der nächsten Katastrophe: Dem Ausbruch der Pest. China war zu dieser Zeit die absolute wissenschaftliche Supermacht, auf militärischem Gebiet jedoch deutlich weniger innovativ. Die damals dort herrschende Sung-Dynastie schaffte es nämlich trotz technologischer Überlegenheit nur mit Mühe, zunächst dem Mongolensturm zu trotzen und kollabierte schließlich unter den brutalen Angriffen der Steppenvölker.
Und dann wurde schließlich zum Ende des 19. Jahrhunderts nach irdischer Zeitrechnung die Core-Explosion im Zentrum der Milchstraße entdeckt - und für die nachfolgenden Jahrzehnte verschwand Terra aus dem Blickfeld der führenden Politiker der Föderation. Den Rest kennt ihr.”
Es war schon nach Mitternacht - in Naroda war es deutlich ruhiger geworden. Große Teile der Wohntürme waren nur noch spärlich beleuchtet. Auch das Kommen und Gehen über die Verbindungsbrücken hoch über ihnen hatte deutlich nachgelassen. Ein leichtes, helles Plätschern war zu hören. Etwa drei Meter unter ihnen brachen sich die Wellen des Sees.
„Ich möchte wissen...” begann Kanei.
„Hört auf, hört auf...”, schoss es beinahe gleichzeitig aus Knuds und Fatimas Mund. „Werdet ihr jungen Leute denn niemals müde?”
Alle mussten herzhaft lachen
Rogopol ergriff das Wort. „Ganz in der Nähe von hier, etwa zehn Minuten zu Fuß entfernt, befindet sich mein Haus. Hier können alle übernachten, denn ich habe Platz genug. Auch wenn ich eine Maschine bin, so ist für mein Gehirn, ähnlich wie bei Menschen der Schlaf, eine Regenerationsphase unbedingt erforderlich. Und wenn die Naseweise in dieser netten Gruppe auf Grund ihrer Neugierde nicht schlafen können, so mögen sie sich die ganze Nacht im föderalen Transnet nach Herzenslust informieren.”
In einem rötlichen, unwirtlichen Dämmerlicht wanderten sie einen schmalen Pfad entlang, der an beiden Seiten durch eine fahlblau leuchtende, etwa vier Meter hohe Mauer begrenzt wurde. Diese bestand aus ihnen unbekannten, an Ackerschachtelhalm erinnernde Pflanzen. Sie konnten das leise Geräusch von glucksenden Wellen, die sich zwischen den grünlich phosphoriszierenden Wurzelknollen totliefen, vernehmen. Wind strich durch das auf beiden Seiten aufragende Gesträuch. Die auf und ab schwankenden, aneinander reibenden und mit einer festen, glasartigen Siliziumhaut überzogenen Pflanzenteile verursachten ein leise klirrendes Geräusch.
Der Pfad führte auf und ab, über kleine Brücken, die über murmelnde Bachläufe führten, über Anhöhen, von denen sie einen unglaublich schönen, mitreißenden Blick auf die nächtliche Gartenlandschaft hatten. Die Ufer des Sees waren ringsherum von diesem eigenartigen Glühen erleuchtet, und kontrastierten mit der tiefdunklen Wasserfläche, die wie ein unergründbarer, nachtschwarzer Spiegel wirkte.
Die Stadt über ihnen schien niemals zur Ruhe zu kommen: Hell erleuchtete Züge fuhren einige 100 Meter über ihnen von Wohnsäule zu Wohnsäule. Trotz der späten Stunde konnten sie zahllose Reisende ausmachen, die aus den Waggons stiegen.
Ihr Blick nach oben wurde am Ende des Weges durch hoch aufragende Gewächse versperrt. Sie bildeten ein fast lichtundurchlässiges Dach über ihren Köpfen. Die sich vor ihnen im düsteren Licht nur ganz schwach abzeichnende Wegbegrenzung wies ihnen den Weg, während das Gelände leicht abschüssig wurde. Plötzlich weitete sich der Raum. Eine ruhige Wasserfläche lag vor ihnen. Sie war wie Tinte schwarzblau gefärbt und phosphoriszierte leicht. Die Reflexionen der Sterne spiegelten sich in ihr. Funkelnde Kronen uralter Bengosien, einem bis zu 200 Meter Höhe wachsenden, bis zu 20 000 Jahre alt werdenden Lebewesen dieser Welt, neigten sich fast bis zur Mitte des ovalen Sees, der etwa 150 Meter lang und 60 bis 70 Meter breit war.
Sie standen regungslos vor dieser traumhaft schönen Kulisse.
„Bitte hier nach links abbiegen”, hauchte Rogopol, und führte sie einen feuchten, mit Schelpus überwucherten schmalen Pfad entlang. Diese Lebensform erfüllte auf dieser Welt die Funktion von irdischem weichen Moos, nämlich Wasser zu speichern. Schließlich hörten sie ein munteres Plätschern vor sich und überquerten, etwa 20 Meter von der Schmalseite des Sees entfernt, über eine aus großen Steinblöcken errichtete Furt einen breiten Bach. Auf der anderen Seite kletterten sie eine etwa drei Meter hohe Uferböschung hoch und standen vor einem etwa fünf Meter hohen Hügel.
„Wartet hier einen Moment”, flüsterte ihr Anführer. Er ging einige Schritte auf das eigenartige Gebilde vor ihnen zu, bückte sich und berührte die Wand vor ihm. Eine runde Tür schwang auf und warmes, gelbes Licht fiel als breiter Streifen auf den Boden.
„Willkommen in meiner bescheidenen Behausung”, meinte Rogopol herzlich. „Ich freue mich, dass mir als erstem Bewohner des Saphirs die Ehre zu Teil wird, euch in der ersten Nacht auf dieser Welt zu beherbergen.”
Das war so nett und liebenswürdig formuliert, dass Fatima als erste auf den hochgewachsenen Roboter zulief, ihn umarmte und zutiefst gerührt ausrief.
„Auch wenn Sie nur eine künstliche Lebensform sind: Ihr Stil, Ihre Umgangsformen und Ihre Aufrichtigkeit machen Sie viele Male humaner, als dies bei der Mehrzahl meiner so genannten menschlichen Artgenossen zu beobachten ist.”
„Nun lobt ihn nicht zu sehr”, meinte Knud schließlich lachend, „sonst brennen ihm vor lauter Rührung noch sämtliche Schaltkreise durch.”
Plötzlich wandte er sich um. Dabei suchte er die Umgebung ab
„Wo steckt eigentlich Saleh?”
Yossi und Aaron drehten sich entsetzt um.
Aber ehe die beiden ehemaligen Israelis reagieren konnten, war Knud bereits auf und davon. Er sprintete den selben Weg zurück, den sie gekommen waren.
Er erreichte Saleh genau in dem Moment, als er sich eine der rasiermesserscharfen, bläulichen Blattlanzen in die Nähe seiner Halsschlagader führte. Seine Hände waren blutverschmiert. Trotz des Dämmerlichts erkannte Knud seine Verzweiflung. Er ergriff ihn, hob ihn hoch und drückte ihn an sich.
„Bitte,” flüsterte er, „das kannst du Yossi, Aaron und auch mit nicht antun. Das wäre so, als wenn du auch uns töten würdest. Wieso redest du nicht mit deinen Freunden? Du hast doch nach deiner letzten Krise im Arboretum den Eindruck gemacht, als ob du diese neue Welt als Chance für einen Neustart deines Leben ergreifen würdest.”
„Ich ertrage es einfach nicht mehr, weiterzuleben. Denk doch bitte nur daran, dass ich doch von meiner eigenen Familie dazu auserwählt worden war, viele Menschen mit in den Tod zu reißen. Ich bin doch von fast allen Menschen in meinem Leben enttäuscht worden.”
„Auch von Aaron und Yossi?”
Mit einer Mischung aus Trauer, Erstaunen und Entsetzen blickte er Knud an und flüsterte nach einer Weile:
„Sie waren die ersten Menschen, die mir wirklich etwas bedeutet haben, denen man zudem bedingungslos vertrauen konnte und kann.”
„Aber kommt es dir denn gar nicht in den Sinn, dass du sie mitten ins Herz treffen würdest, wenn du deinem Leben jetzt hier ein gewaltsames Ende bereiten würdest?”
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