„Es wird kleiner, ja, und etwas Neues, Unbekanntes liegt vor einem, aber ganz unwichtig wird das nie, was wir zurücklassen. Von allem, was hinter uns liegt, nehmen wir einen Teil mit nach vorne in jeden neuen Tag. Zum größten Teil natürlich unbewusst. Dabei ist es egal wie weit oder wohin man geht.“ „Wie ist das eigentlich genau mit dem Unterbewusstsein?“ „Das ist wie Fahrrad fahren oder Schwimmen, hat man es erst einmal eingeübt, ist es gespeichert und dann verlernt man es nie wieder. Und nicht nur das, was wir bewusst gelernt haben, sondern alles was wir einmal sahen und erlebten. Also praktisch all` unsere Erfahrungen, Eindrücke und auch die Gefühle, die wir dabei hatten, wie Freude, Angst, Ekel oder Mitleid. Das Unterbewusstsein ist auch der Sitz unserer Kreativität und unserer Intuition, also dem sogenannten Bauchgefühl. Ein Ereignis, zum Beispiel ein Theaterstück, sehen wir bewusst. Aber das Unterbewusstsein lässt uns spüren, ob es schön, langweilig oder gar abstoßend auf uns wirkt.“ Das Mädchen hatte aufmerksam zugehört und nickte nachdenklich. „Aha.“
„Sie sind nicht aus Hagnau?“ Er musste lachen „Nein, nein natürlich nicht, ich komme aus Schweden.“ „Aus Schweden, ach ja, die Fahne hinten am Boot. Wieso sprechen Sie denn so gut Deutsch?“ „Meine Mutter ist Deutsche und mein Vater ist Schwede. Er war Ingenieur und arbeitete in einem großen Motorenwerk in Friedrichshafen. Meine Mutter arbeitete in der Stadt in einem kleinen Café, darin lernten sich meine Eltern kennen. Mein Vater bekam kurz danach ein gutes Angebot von der Firma Volvo und so zogen sie um nach Schweden. Ich wurde dort geboren und lernte von klein auf beide Sprachen. Das war meiner Mutter sehr wichtig. Und wo lebtest Du vorher?“ „Wir sind vor fast 2 Jahren nach Hagnau gezogen, wir wohnten vorher in Ulm. Mein Vater bekam dann hier eine neue Arbeit, aber jetzt --- ach Sch…. darüber wollte ich ja gar nicht reden.“
Nilsson nickte langsam und da sie inzwischen außerhalb des Hafens waren, setzte er die Segel. Das Boot nahm Fahrt auf und glitt ruhig über das grünlich schimmernde klare Wasser des Sees, dessen kleine Wellen der steile Bug nach rechts und links verteilte. Es war ein schöner, sonniger Tag. Ein leichter Wind wehte, gerade richtig, um völlig entspannt auf dem Wasser dahinzugleiten.
„Wenn man mit dem Segeln beginnt, lernt man viele neue Wörter dazu, die hat man vorher nie gehört. Zum Beispiel ist ein kurzes Seil ein Ende und ein längeres Seil eine Schot. Vorne am Schiff ist der Bug und hinten heißt es Heck. Die lustigen Dinger, die wie harte Luftballons aussehen, sind die Fender und schützen das Boot vor Kratzern beim An- und Ablegen. Vorne ist das Vorsegel oder die Fock und dies hier nennt sich Großsegel oder einfach Groß. Rechts heißt steuerbord und links heißt backbord. Kann man sich gut merken weil steuerbord hat zwei ‚r‘ wie rechts. Übrigens die Fahne, die Du vorhin erwähnt hast, heißt richtig Flagge.“ Während er ihr das erklärte, zeigte er auf die jeweiligen Teile.
Nora hatte ihm interessiert zugehört, nickte verstehend und setzte sich dann auf das Vordeck. Sie stütze sich nach hinten mit den Armen ab. Ihre dunkelbraunen, langen Haare bedeckten locker den halben Rücken. Sie blickte nach vorn und schloss die Augen. Der Mann sah sie an und dachte traurig, dass dort jetzt seine Tochter sitzen könnte. Es war ihm fast unheimlich, dass die schöne, fremde Mitfahrerin seiner geliebten Alva so sehr ähnlich war. Und noch etwas, das aber anscheinend nur er sah und den Augen des Mädchens verborgen blieb, bewegte ihn tief in seinem Herzen.
Die Yacht glitt mühelos und leicht über die Wellen vor dem Süd-Westwind und nahm Kurs auf Bregenz. Die Alpen waren an diesem Tag ungewöhnlich klar zu sehen. Oben auf den Schweizer Gletschern glitzerte der Schnee in der Sonne. Es war einfach herrlich. Mitten auf dem See drehte Nilsson das Boot in den Wind um anzuhalten, und sie begannen mit dem Frühstück. Ab und zu grüßte ein vorbeifahrender Segler freundlich zu den beiden hinüber. „Sie kennen aber viele Leute.“ „Ja, die meisten Wassersportler kennen sich hier. Viele sind sehr nett, auch einige Schweizer und Österreicher sind gute Bekannte von mir.“ „Ach - ich wünschte, diese Fahrt ginge nie zu Ende, so ein traumhafter Tag! Darf ich morgen auch wieder mitfahren? Bitte, bitte, ja?“ Nora sah ihn mit großen, klaren Augen so hinreißend an, dass er nicht anders konnte, als einfach zuzustimmen.
„Ja, klar, aber vorher will ich mit Deinen Eltern darüber sprechen und mich ihnen vorstellen. Sie müssen wissen, mit wem ihr Mädchen unterwegs ist.“ „Das brauchen Sie doch nicht, es ist alles in Ordnung so, bestimmt!“ Sie nickte eifrig. „Nora hör mal, wenn ich mir vorstelle, dass meine Tochter am Hafen einen fremden Mann fragt, ob er sie mit auf sein Boot nimmt und sie dann stundenlang mit ihm alleine auf dem See unterwegs ist, dann wäre mir, ehrlich gesagt, schon ganz anders geworden. “Nora schaute ziemlich genervt aus, als sie forsch fragte: „Haben Sie denn überhaupt eine Tochter?“ Er wandte seinen Blick von ihr weg und drehte sich zur Seite. Während er in die Ferne schaute, sagte er: „Meine Tochter heißt Alva, aber sie lebt nicht mehr in unserer Welt.“
„Oh, das tut mir jetzt Leid, Entschuldigung.“ Das junge Mädchen biss sich auf die Lippe. „Ja, mir auch, sehr sogar.“ Nora dachte über seine Worte eine Weile nach. „Warum sagen Sie das ‚nicht mehr in unserer Welt‘ glauben Sie etwa, dass sie irgendwo anders lebt?“ „Ja, ich glaube, dass Alvas Seele weiter lebt.“ „Meinen Sie im Himmel oder so?“ „Ich weiß selbst nicht so genau, wie ich es mir vorstellen soll, aber ich bin fest davon überzeugt, dass es nach dem Tod des Körpers für unsere Seele irgendwie, irgendwo weitergeht.“ Nora schaute nachdenklich zu dem Mann hinüber. „Ach übrigens, wegen meiner Eltern. Meinen Vater treffen Sie sowieso nicht an.“ „Aber Deine Mutter, oder?“ „Die schon – glaub ich.“ „Na, dann ist es ja gut.“ „Willst Du über Deinen Vater reden?“ „Jetzt nicht, nein.“ Sie schüttelte so heftig den Kopf, dass ihre Haare stoben.
„O.k., wenn wir gegessen haben, wende ich. In etwa zwei Stunden sind wir zurück in Hagnau.“ „Och, schon?“ „Ja, morgen ist doch auch wieder ein Tag. Und ich freu` mich darauf. Wenn Du Badesachen mitbringst, könnten wir direkt vom Boot aus schwimmen gehen.“ Das Mädchen nahm wieder ihren Platz auf dem Vordeck ein. Plötzlich schlug sie ihre Hände vors Gesicht und weinte leise. Nilsson setzte sich neben sie und legte ihr vorsichtig die Hand um die zuckenden Schultern. „Wenn Du mal reden willst, ich bin ganz gut im Zuhören“, sagte er und hielt das schluchzende Mädchen ganz fest. Nora ließ es geschehen und lehnte ihren Kopf an die Schulter des Mannes. Tief in ihrem Inneren spürte sie plötzlich wieder das warme Gefühl von Geborgenheit, das sie an glückliche Kindertage erinnerte.
„Oh nein! Was ist das denn?“ Sie erschraken durch das laute Geheule einer Schiffssirene. „Großer Gott!“ Ein Fahrgastschiff hielt direkt auf die Yacht zu! „Runter!“, schrie der Schwede und riss im letzten Moment das Steuerrad herum. Das Boot reagierte zwar langsam, aber es kam gerade noch knapp an der stählernen Bordwand der ‚Graf Zeppelin‘ vorbei. „Nochmal Glück gehabt. Dem Himmel sei Dank!“ „Der Dicke hätte unsja auch ausweichen können! Wir waren schließlich beschäftigt!“, lachte Nora und wischte sich mit einer Hand die Tränen aus ihren Augen. „Fahrgastschiffe haben hier immer Wegerecht, so heißt die Vorfahrt auf dem Wasser. Ich war leider sehr leichtsinnig“, gab Lars zähneknirschend zu. Die Verantwortung, die er für das Mädchen so schnell und ohne weiter darüber nachzudenken übernommen hatte, indem er sie auf seinem Schiff mitnahm, wurde ihm schlagartig bewusst. Auch musste er daran denken, dass sein Verhalten sicher ein Nachspiel haben würde, wenn der Kapitän seiner Verpflichtung nachkommt, über den Beinahe-Zusammenstoß eine Meldung an die Wasserschutzpolizei zu machen.
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